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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0764
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744 Jenseits von Gut und Böse

207, 22-25 Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwälti-
gung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner
Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung] Ein solcher Be-
griff von Leben als Überwältigung und Steigerung ist präfiguriert durch Überle-
gungen beispielsweise bei Baumann 1879 und Rolph 1884, während die Einver-
leibung bereits bei Ludwig Feuerbach das Funktionsmodell für Leben abgab
(dazu im Vergleich mit N. Sommer 2012f). Zur Ausbeutung siehe NK 208, 6-16,
allgemein z. B. Knoll 2009,174 f. u. Müller-Lauter 1999b, 194-200; in der frühen
marxistischen Lesart, namentlich bei Franz Mehring, avancierte N., dem diese
Aussagen ohne Weiteres persönlich zugerechnet wurden, zum Repräsentanten
einer kapitalistischen Philosophie der Ausbeutung (vgl. z. B. Behler 1984, 513,
ferner allgemein zu N. und Mehring Sommer 1996). Tatsächlich ist JGB das
Werk, das laut Mehring 1891, 119-127 als typisch gilt für den „Philosophen des
Kapitalismus“ (vgl. Kr I 224). Nicht in Erwägung gezogen wird dabei, dass es
sich um eine Form fingierter Rollenrede handeln könnte.
207, 29 f. es geschieht in jeder gesunden Aristokratie] Ein historisch konkret
fassbares Beispiel für solch eine „gesunde Aristokratie“ hat das Neunte Haupt-
stück seinen Lesern bisher allerdings vorenthalten; stattdessen gibt JGB 258
mit dem französischen Adel am Vorabend der Revolution das Beispiel einer
kranken Aristokratie. Im Nachlass finden sich Reflexionen über eine durch wis-
senschaftliche Naturbeherrschung möglich werdende Befreiung vom Natur-
joch, die den Menschen zum Genuss von „Muße“ und zur Ausbildung einer
,,Neue[n] Aristokratie“ in Stand setze - wobei „die die bisherigen Aristokrati-
en [...] nichts gegen die Nothwendigkeit einer neuen Aristokratie“ bewiesen
(NL 1886/87, KSA 12, 5[61], 207, 13-208, 11, entspricht KGW IX 3, N VII 3, 115 f.).
Vgl. dazu Stegmaier 2012, 564.
208, 6-16 man schwärmt jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen
sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen „der ausbeuterische
Charakter“ abgehn soll: — das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben
zu erfinden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die
„Ausbeutung“ gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven
Gesellschaft an: sie gehört in’s Wesen des Lebendigen, als organische Grund-
funktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille
des Lebens ist] Vgl. NK 207, 22-25. Neben den Sozialisten agitierte insbesondere
Eugen Dühring gegen die herrschende, auch soziale und politische Ausbeu-
tung. Er hegte eine Schwäche für diese Vokabel: „Die wirklich schlechten Lei-
denschaften sind in der Raubgier und Herrschsucht, also in derjenigen beson-
dern Gestaltung falscher Triebe zu suchen, wie sie sich im Raubthier verwirk-
licht finden. Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den
 
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