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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0804
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784 Jenseits von Gut und Böse

Apollon-Tempel in Delphi steht: „FvmOi oeauTÖv“, „Erkenne dich selbst!“ (vgl.
NK KSA 6, 293, 29-32). Die faktische Unmöglichkeit von Selbsterkenntnis räumt
hingegen auch FW 335, KSA 3, 560,18-21 ein, und noch die späte Lyrik assozi-
iert Selbsterkenntnis mit Selbstzerstörung (vgl. NK KSA 6, 390, 31 f.).
JGB 32 betont, dass Selbsterkenntnis eine Geschichte habe und mit Moral liiert
sei, vgl. NK 50,17-31. Formal besteht die Pointe darin, dass JGB 281 - eingebet-
tet zwischen den beiden Kurzdialogen JGB 280 und JGB 282 - als Monolog
eines räsonierenden Ich angelegt ist - überdeutlich markiert durch die den
ganzen Abschnitt rahmenden An- und Abführungszeichen - und dass diese
Form des räsonierenden Monologs gerade das klassische Medium der Suche
nach Selbsterkenntnis darstellt (exemplarisch dafür etwa Augustins Soliloquia
und Descartes’ Meditationes). Im Eingangsbekenntnis dieses Ich, „schlecht“ an
und über sich zu denken, mag man eine ironische Verbeugung vor der Selbst-
vergewisserungsliteratur par excellence, nämlich dem (religiös-protestanti-
schen) Tagebuch mit seinem Gestus der Selbstprüfung, der Selbstanklage und
der Selbstverachtung erkennen. Die An- und Abführungszeichen verhindern
zudem, das sprechende Ich vorschnell mit dem empirischen Autor N. zu identi-
fizieren, der hier jede Aussage über sich verweigert - getreu der aus JGB 281
ableitbaren Devise, (sich) über sich selbst im Unbestimmten zu lassen. Wie
und ob N. selbst schlecht über sich gedacht hat, bleibt offen, ebenso, ob er
im Gegenteil Ehrfurcht vor sich empfindet, wie es das Ende von JGB 287 der
„vornehmen Seele“ zuschreibt (vgl. NK 233,15 f.). Oder kann Ehrfurcht vor sich
nur empfinden, wer sich nicht auf den Grund zu gehen wagt?
Zu Beginn von JGB 281 notierte Karl Jaspers an den Rand: „Nicht über sich
selber denken“ (Nietzsche 1923, 263). Zur Kritik am philosophischen Gebot der
Selbsterkenntnis in JGB 281 vgl. auch Hofmann 1994, 127.
230, 6-10 Dank einem unbezwinglichen Misstrauen gegen die Möglichkeit
der Selbst-Erkenntniss, das mich so weit geführt hat, selbst am Begriff „unmittel-
bare Erkenntniss“, welchen sich die Theoretiker erlauben, eine contradictio in
adjecto zu empfinden] NL 1885, KSA 11, 40[30], 644, 18-20 (KGW IX 4, W I 7,
61, 2-4) problematisiert gegen Teichmüller 1882, 34 f. die Idee unmittelbaren
Erkennens, vgl. die Nachweise und den Quellenauszug in NK 29, 18 f. (sowie
Loukidelis 2005c). Der eigentliche Bezugspunkt von 230, 6-10 ist aber eine spä-
tere Passage in Teichmüllers Buch, das die Selbsterkenntnis zum Ausgangs-
punkt aller kritischen Philosophie erklärt: „Wollen wir daher nicht von dem
kritischen Standpunkte abfallen und doch auch nicht bloss eine richtige und
objective Auffassung des Scheins der Dinge gewinnen, wie die Erfahrungswis-
senschaften nichts anderes bieten können, so müssen wir einen andern Weg
versuchen und uns selbst angehen, weil das Bewusstsein eben unser Be-
wusstsein ist und wir als reale Wesen eine unmittelbare Erkenntniss von uns
 
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