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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0810
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790 Jenseits von Gut und Böse

und ötKaioCTUvri (iustitia, Gerechtigkeit) als Kardinaltugenden genannt (vgl.
Platon: Politeia 427e; 433b-c; 580d-581a).
Die ävöpeia bleibt bei N. in Gestalt des „Muths“ erhalten - eines modifi-
zierten Mutes, sich nämlich von allem Herkömmlichen abzustoßen die
(ppovriotc; in Gestalt der „Einsicht“, die freilich eine Einsicht ist, die (alle) bishe-
rige philosophische Einsicht als Trug entlarven will. Die ooxppoouvri weicht
hingegen einer sozialen Tugend, dem „Mitleid“ oder „Mitgefühl“, das nicht
als Selbstschwächung durch die Aneignung fremden Leidens missverstanden
werden werden darf, sondern als großmütig(-herablassend)e Zuwendung zu
anderen zu verstehen ist. Einsamkeit schließlich scheint zunächst ja kein Habi-
tus zu sein und damit nicht tugendfähig, sondern bloß ein Zustand. Hier wird
hingegen insinuiert, Einsamkeit werde aktiv hergestellt - sie sei ein sich habi-
tualisierendes Willensprodukt, kein kontingentes Widerfahrnis. Dass die Ein-
samkeit dem Tugendkatalog inkorporiert wird, kann sich durchaus auf promi-
nente philosophische Vorgaben berufen, etwa auf diejenigen Epikurs, auf die
JGB 25 unverhohlen anspielt, vgl. NK 42, 26-43, 2. JGB 284 gibt dafür allem
hochgestimmten Pathos zum Trotz eine pragmatisch-prosaische Begründung,
die zum romantischen Einsamkeitsdünkel Distanz wahrt: Wer nicht einsam
lebt, läuft Gefahr, sich durch die Berührung mit den als geistig unreinlich emp-
fundenen Mitmenschen zu beflecken. Nicht anders hätte auch ein christlicher
Eremit seine Weltflucht begründen können. Nur hätte er für die Unreinlichkeit
das Wort Sünde verwendet. Strukturell ist die Begründung des christlichen Ein-
siedlers und des auf Zukunft aspirierenden Philosophen für das Einsamkeitsbe-
dürfnis identisch.
232, 3 f. ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit] Im Druckmanuskript
hieß es zunächst: „eine sublime Art der Keuschheit“ (KSA 14, 373).

285.
Wie in den unmittelbar vorangehenden und nachfolgenden Abschnitten wird
in JGB 285 offensichtlich die Perspektive des Wissenden eingenommen, der
über „Geist und Stern“ (232,19) umfassend unterrichtet ist und wiederum seine
Leser darüber unterrichtet. Wie in JGB 283, KSA 5, 231, 17 f. gibt es nur einen
einzigen Satz in Anführungszeichen, der aber in JGB 285 nicht die Perspektive
eines Unberufenen wiedergibt, sondern durch direkte Rede die Ansprache an
den Leser intensiviert und die Hauptfrage stellt: ,„Wie viel Jahrhunderte
braucht ein Geist, um begriffen zu werden?“4 (232, 16 f.) Die Frage erhob sich
für N. angesichts des grandiosen Misserfolgs seiner philosophischen Schrift-
stellerei und provozierte im Spätwerk die Antwort eines postumen Geboren-
 
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