DAS YM SELBS
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Und doch ist Bucer so sehr selbständiger Denker, daß er die von
Luther empfangenen Anregungen nur in der ihm gemäßen Umprägung
aufnehmen kann. So ist denn auch seine vorliegende Schrift originell
genug. Dies gilt einmal für den Aufriß der Predigt, zum andern für das
bereits oben bei der Charakterisierung der Bucerschen Theologie fest-
gestellte zähe Festhalten an dem Programm einer Verwirklichung der
»societas christiana« und schließlich in der für Bucer eigentümlichen
Fassung des Rechtfertigungsgeschehens. Es geht Bucer darum, daß sich
die Rechtfertigung in einem neuen Leben des Glaubens deutlich mani-
festiert. In der theologischen Fassung der Rechtfertigungslehre erreicht
Bucer in keiner Weise die Tiefe der Lutherschen Gedanken. Denn für
Luther ist doch jeder Glaube angefochtener Glaube; die Rechtfertigung
ist kein welthaft-konstatierbarer Tatbestand, sondern das im Glauben
anzunehmende und zu realisierende Geschenk der Verheißung.
Gegenüber der ausgesprochen theologischen Fassung der Recht-
fertigungslehre Luthers bewegt sich Bucer stärker in psychologisch-
pädagogischen Kategorien19. An die Stelle der Dialektik des Glaubens
(simul iustus ac peccator) tritt der »ordo iustificationis« mit seinen ver-
schiedenen in logischer Folge einander ablösenden Akten: Der um die
Erfüllung seines Lebens sorgende Mensch, dessen ganzes Streben auf
das eigene Ich konzentriert ist, muß durch den Heiligen Geist davon
überzeugt werden, daß Gott ihn von Ewigkeit her erwählt und ihn
durch Jesus Christus zu seinem Kinde und Erben angenommen hat.
Diese überwältigende und unbezweifelbare Gnade Gottes, die den
gläubigen Menschen von sich selbst erlöst, muß ihn notwendigerweise
zu einem Leben der Dankbarkeit gegen Gott führen, das einerseits
Gottes Ehre, andererseits das Wohl des Nächsten im Auge hat.
Dieser psychologisch-pädagogischen Schau des Rechtfertigungs-
geschehens entspricht es, daß Bucer von dem Glauben verlangen muß,
nous fait mieux voir que Bucer ne s’est pas seulement assimile les formules du maitre,
mais qu’il les a repensees et a su leur donner une expression personnelle« (Bucer-
Ausgabe, S. 7). »Dans cette (premiere) partie de son traite, Bucer a developpe ce qui
n’etait qu’esquisse dans le traite de la liberte chretienne, ou Luther demande d’une
facon generale au chretien d’etre >utile< a son prochain« (Bucer interprete..., S. 233).
Im einzelnen ließe sich auf verschiedene Berührungspunkte hinweisen: Auf die
Formulierung des Titels von B.s Traktat (vgl. oben, Anm. 17), vielleicht auch auf
die in beiden Schriften begegnende Zweiteilung, schließlich auf die sachliche Über-
einstimmung in der Beurteilung der guten Werke, die der Glaube als eine natürliche
Frucht hervorbringt und darin seine Wirklichkeit offenbart, da er, wie es auch ver-
schiedentlich heißt, in Gott allen Reichtum findet, der dann notwendig auch auf den
Nächsten überfließen muß.
19. Vgl. J. Müller, a.a.O., S. 15 ff. Ein ordo iustificationis klingt in »Das ym
selbs...« an (S. 67, Z. 8ff.). Er ist im Epheser-Kommentar B.s (Bibl.Nr. 17) S. 26b
genauer angegeben und in vier Stadien umrissen: Erwählung-Berufung-Heiligung -
Verherrlichung. Vgl. auch Evangelien-Kommentar (Bibl. Nr. 28a), S. 89 A.
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Und doch ist Bucer so sehr selbständiger Denker, daß er die von
Luther empfangenen Anregungen nur in der ihm gemäßen Umprägung
aufnehmen kann. So ist denn auch seine vorliegende Schrift originell
genug. Dies gilt einmal für den Aufriß der Predigt, zum andern für das
bereits oben bei der Charakterisierung der Bucerschen Theologie fest-
gestellte zähe Festhalten an dem Programm einer Verwirklichung der
»societas christiana« und schließlich in der für Bucer eigentümlichen
Fassung des Rechtfertigungsgeschehens. Es geht Bucer darum, daß sich
die Rechtfertigung in einem neuen Leben des Glaubens deutlich mani-
festiert. In der theologischen Fassung der Rechtfertigungslehre erreicht
Bucer in keiner Weise die Tiefe der Lutherschen Gedanken. Denn für
Luther ist doch jeder Glaube angefochtener Glaube; die Rechtfertigung
ist kein welthaft-konstatierbarer Tatbestand, sondern das im Glauben
anzunehmende und zu realisierende Geschenk der Verheißung.
Gegenüber der ausgesprochen theologischen Fassung der Recht-
fertigungslehre Luthers bewegt sich Bucer stärker in psychologisch-
pädagogischen Kategorien19. An die Stelle der Dialektik des Glaubens
(simul iustus ac peccator) tritt der »ordo iustificationis« mit seinen ver-
schiedenen in logischer Folge einander ablösenden Akten: Der um die
Erfüllung seines Lebens sorgende Mensch, dessen ganzes Streben auf
das eigene Ich konzentriert ist, muß durch den Heiligen Geist davon
überzeugt werden, daß Gott ihn von Ewigkeit her erwählt und ihn
durch Jesus Christus zu seinem Kinde und Erben angenommen hat.
Diese überwältigende und unbezweifelbare Gnade Gottes, die den
gläubigen Menschen von sich selbst erlöst, muß ihn notwendigerweise
zu einem Leben der Dankbarkeit gegen Gott führen, das einerseits
Gottes Ehre, andererseits das Wohl des Nächsten im Auge hat.
Dieser psychologisch-pädagogischen Schau des Rechtfertigungs-
geschehens entspricht es, daß Bucer von dem Glauben verlangen muß,
nous fait mieux voir que Bucer ne s’est pas seulement assimile les formules du maitre,
mais qu’il les a repensees et a su leur donner une expression personnelle« (Bucer-
Ausgabe, S. 7). »Dans cette (premiere) partie de son traite, Bucer a developpe ce qui
n’etait qu’esquisse dans le traite de la liberte chretienne, ou Luther demande d’une
facon generale au chretien d’etre >utile< a son prochain« (Bucer interprete..., S. 233).
Im einzelnen ließe sich auf verschiedene Berührungspunkte hinweisen: Auf die
Formulierung des Titels von B.s Traktat (vgl. oben, Anm. 17), vielleicht auch auf
die in beiden Schriften begegnende Zweiteilung, schließlich auf die sachliche Über-
einstimmung in der Beurteilung der guten Werke, die der Glaube als eine natürliche
Frucht hervorbringt und darin seine Wirklichkeit offenbart, da er, wie es auch ver-
schiedentlich heißt, in Gott allen Reichtum findet, der dann notwendig auch auf den
Nächsten überfließen muß.
19. Vgl. J. Müller, a.a.O., S. 15 ff. Ein ordo iustificationis klingt in »Das ym
selbs...« an (S. 67, Z. 8ff.). Er ist im Epheser-Kommentar B.s (Bibl.Nr. 17) S. 26b
genauer angegeben und in vier Stadien umrissen: Erwählung-Berufung-Heiligung -
Verherrlichung. Vgl. auch Evangelien-Kommentar (Bibl. Nr. 28a), S. 89 A.