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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Sehling, Emil [Begr.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (6. Band = Niedersachsen, 1. Hälfte, 1. Halbband): Die Fürstentümer Wolfenbüttel und Lüneburg mit den Städten Braunschweig und Lüneburg — Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1955

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https://doi.org/10.11588/diglit.30040#0331
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Klosterordnung 1569

Im propheten Esaia saget er [Esa. 29, 13 1;
Matth. 15, 8 f.]: Darumb das dis volk sich nahet
zu mir mit seinem munde und mit seinen lippen
mich ehret, aber ihr herz ferne von mir ist,
und mich fürchten nach menschengeboten, die
sie leren, so wil ich auch wünderlich mit die-
sem volk umbgehen, auf das wünderlichste und
seltzamest, das die weisheit seiner weisen unter-
gehe und der verstand seiner klugen verblendet
werde. Das ist so viel gesaget: Gott wil ihm
solchen dienst nicht gefallen lassen, der nur
mit dem munde und nicht mit verstand des
herzen und aus rechtem warhaftigen glauben
geschicht, inmassen denn die armen jungfreulin
in der kelte zu winterszeiten zwo, drey stund
stehen und ohn allen verstand und mit höchstem
verdrus etliche viel psalmen müssen singen und
lesen, damit sie doch Gott nicht gedienet, son-
dern, wie er hie im propheten Esaia saget, er-
zürnet haben, und drauet, das er solche leut umb
solches vermeinten gottesdienstes willen straf-
fen wölle, welches je zu klagen und zu erbar-
men ist, das ihm selbst ein mensch wehe thun
und noch darzu mit solchem Gott erzürnen solle.

Darumb wenn gleich nichts denn der psalter
gesungen würde in unbekanter sprach, so sol
man wissen, das Gott ihm solchs nicht wolle
gefallen lassen. Denn der gottesdienst sol ver-
nünftig sein, das ist, mit herzen und verstand
geschehen und nicht mit den lefzen allein.

Desgleichen ist der psalter 54 nicht der ursach
zusamengetragen, das man denselben also durch-
lesen oder singen und mit diesem werk den

54 a. R.: Rechter gebrauch des psalters.

55 a. R.: Misbrauch des heiligen Vater unsers.

56 Das Vaterunser und das Ave Maria sind
die beiden Hauptbestandteile der Rosenkranz-
andacht, die im Wesentlichen vom Domini-
kanerorden — jedoch erst nach dem Tode
des Dominikus — ausgebildet worden war.
Die Sitte, das Ave Maria als Gebetsformel
zu verwenden, entstammte erst dem hohen
Mittelalter, und die heutige Form mit An-
fügung noch weiterer Sätze an den eigent-
lichen englischen Gruß fand ihre abschlie-
ßende Ausbildung im 16. Jhdt. — Vgl. Zöckler,
RE 3 17, S. 144 ff.; St. Beissel, Gesch. d. Ver-
ehrung Marias i. 16. u. 17. Jhdt. 1910, S. 5 ff,
35 ff.

leuten aus dem fegfeur helfen soll, sondern
darumb ist er geschrieben, das man darinnen
lese und sich daraus unterweisen solle zum
gebet, zur danksagung und andern nützlichen,
heilsamen leren, die im psalter begriffen sind.
Derhalben wer den psalter singet oder lieset
für einen lebendigen oder todten, der hilft dem
abgestorbenen nichts, sondern erzürnet darzu
Gott und misbrauchet den psalter zu einer sache,
darzu er von Gott nicht verordnet ist.

Solcher gestalt ist auch das Vater unser 55 und
der engelisch grus 56 in einen unrechten brauch
gezogen, da man den jungfrauen auferlegt, das
sie auf einmal etliche viel Vater unser und Ave
Maria sprechen sollen, welches weder Christus
noch seine apostel befohlen haben. Denn das
beten stehet nicht in der zall, soll auch nicht
darauf gesetzt, sondern im glauben und andacht
[Joan. 4, 23 f.]. Und ein Vater unser, aus glauben
und andacht gebetet, ist besser denn tausent
rosenkrenz.

Also der engelische grus 57 ist kein gebet,
kan und sol nicht gebeten, sondern allein ge-
lesen und dabey die gnad Gottes und die
menschwerdung des Sons Gottes betrachtet
werden.

Aber dabey ist es nicht geblieben, sondern
uber solchen unverstand und unrechten brauch
des psalters ist auch eingefüret worden die
anruffung der abgestorbenen heiligen 58 und das
vertrauen auf ihren verdienst, deren hülfe und
fürbitte, beides, für die lebendigen und die
todten, ist teglich begeret und gebeten worden 59.

57 a. R.: Vom engelischen grus.

58 a. R.: Von anruffung der heiligen.

59 Vgl. zur Fürbitte der Heiligen für die Leben-
den besonders das „Confiteor” der Prim und
des Completoriums: Confiteor Deo omnipo-
tenti, beatae Mariae semper Virgini, beato
Michaeli Archangelo, beato Joanni Baptistae,
sanctis Apostolis Petro et Paulo, omnibus
Sanctis, quia peccavi nimis cogitatione, verbo
et opere, mea culpa... Ideo precor beatam
Mariam semper Virginem, beatum Michae-
lem ... (usw.) orare pro me ad Dominum
Deum nostrum. — Vgl. Brev. Rom., P. Vern,
S. 20 u. 34 f., P. Aestiv. S. 15 u. 24, P. Autumn.
S. 15 u. S. 25 f„ P. Hiem. S. 17 f. u. 30;dazu

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