418 I Eva Schlotheuber
logen konnten dafür auf antike Vorstellungen zurückgreifen: „Nach Plutarch
lässt das ,Erkenne dich selbst' den Menschen die Schwachheit seiner Natur im
Gegenüber zum Göttlichen erkennen: Selbsterkenntnis wird zur Beziehungser-
kenntnis, das Selbst erkennt sich bezogen auf das Göttliche, als verdankt und
begrenzt".14 Der Dominikanertheologe und Mystiker Meister Eckhardt ff 1328)
hat diese Beziehung in ein erklärendes Bild gebracht: Er bezeichnet die Got-
tebenbildlichkeit des Menschen als ihm durch Gott eingepflanzte ,Bildung',
der die ,Wieder-Ein-Bildung' Gottes in die menschliche Seele entspricht.15 Die
(Gottes- und Selbst-)Erkenntnis ist im platonischen Sinne ein Wiedererkennen.
Die Antoniusvita verhandelt diesen Aspekt der Beziehungserkenntnis, um die
der Mensch sich selbst mit aller Kraft bemühen musste, als Kampf des atletha
Christi Antonius gegen die inneren Dämonen, eine Szene von zeitloser Wirk-
mächtigkeit, wie sie auf dem Isenheimer Altar des Matthias Grünewald (ca.
1480-1528) so hinreißend dargestellt ist (Abb. 36). Für die christliche Seelen-
lehre ist Athanasius' Erklärung interessant, woher die inneren Dämonen kom-
men, die Antonius' Seele bis auf den Tod quälen. Die Dämonen, schreibt Atha-
nasius, lassen Trugbilder entstehen, zum Schaden derer, „die sich fürchten".16
Antonius kämpft also gegen die eigene Angst. Erst als er die eigene Angst be-
siegt hat, gewinnt er als grundlegende Voraussetzung des unmittelbaren Gottes-
zugangs die Seelenruhe (das alte philosophische Ideal der quietus) und in dem
nun klaren Seelenspiegel erschließen sich ihm die göttliche Ordnung und das
Wissen von der Welt (sapientia) in einem tieferen Sinne.
Für diese neue, intellektuell gleichsam voraussetzungslose Form des Wissens-
zugangs stand Antonius exemplarisch das gesamte Mittelalter hindurch. Neben
dem neuen Bildungsbegriff etablierte sich auf der Basis der antiken Bildung,
grundgelegt durch Cassiodor und Cassian, ein rationaler christlicher bzw. mo-
nastischer Wissensbegriff auf der Basis der artes liberales. Voll entwickelt stellte
die rationale Gotteserkenntnis in der Scholastik den wichtigsten Gotteszugang
dar,17 der erheblich dadurch an Gewicht gewann, als sich die Ausbildung der
Kleriker an den Kloster- und Domschulen bzw. Universitäten als Zugangsvor-
aussetzung zum Klerikeramt und zur Sakramentenspendung etablierte. Das
14 Gemeinhardt, Bildung (wie Anm. 1), S. 167.
15 Meister Eckharts Predigten (25-59), hg. und übers, von Josef Quint, München 1971, Bd. 2,
Pred. 40 278, 4-6: Und dar umbe, als sich der mensche mit minne ze gote blöz vüegende ist,
so wirt er entbildet und ingebildet und überbildet in der götlichen einförmicheit, in der er mit
gote ein ist. Stephan Brembeck, Der Begriff der Bildung bei Meister Eckhart, Passau 1998.
Eva Borst, Theorie der Bildung. Eine Einführung (Pädagogik und Politik 2), Baltmanns-
weiler 22011, S. 11-27.
16 Leben des heiligen Antonius (wie Anm. 6), S. 703.
17 Zuletzt Frank Rexroth, Fröhliche Scholastik. Die Wissensrevolution des Mittelalters,
München 2019, S. 51.
logen konnten dafür auf antike Vorstellungen zurückgreifen: „Nach Plutarch
lässt das ,Erkenne dich selbst' den Menschen die Schwachheit seiner Natur im
Gegenüber zum Göttlichen erkennen: Selbsterkenntnis wird zur Beziehungser-
kenntnis, das Selbst erkennt sich bezogen auf das Göttliche, als verdankt und
begrenzt".14 Der Dominikanertheologe und Mystiker Meister Eckhardt ff 1328)
hat diese Beziehung in ein erklärendes Bild gebracht: Er bezeichnet die Got-
tebenbildlichkeit des Menschen als ihm durch Gott eingepflanzte ,Bildung',
der die ,Wieder-Ein-Bildung' Gottes in die menschliche Seele entspricht.15 Die
(Gottes- und Selbst-)Erkenntnis ist im platonischen Sinne ein Wiedererkennen.
Die Antoniusvita verhandelt diesen Aspekt der Beziehungserkenntnis, um die
der Mensch sich selbst mit aller Kraft bemühen musste, als Kampf des atletha
Christi Antonius gegen die inneren Dämonen, eine Szene von zeitloser Wirk-
mächtigkeit, wie sie auf dem Isenheimer Altar des Matthias Grünewald (ca.
1480-1528) so hinreißend dargestellt ist (Abb. 36). Für die christliche Seelen-
lehre ist Athanasius' Erklärung interessant, woher die inneren Dämonen kom-
men, die Antonius' Seele bis auf den Tod quälen. Die Dämonen, schreibt Atha-
nasius, lassen Trugbilder entstehen, zum Schaden derer, „die sich fürchten".16
Antonius kämpft also gegen die eigene Angst. Erst als er die eigene Angst be-
siegt hat, gewinnt er als grundlegende Voraussetzung des unmittelbaren Gottes-
zugangs die Seelenruhe (das alte philosophische Ideal der quietus) und in dem
nun klaren Seelenspiegel erschließen sich ihm die göttliche Ordnung und das
Wissen von der Welt (sapientia) in einem tieferen Sinne.
Für diese neue, intellektuell gleichsam voraussetzungslose Form des Wissens-
zugangs stand Antonius exemplarisch das gesamte Mittelalter hindurch. Neben
dem neuen Bildungsbegriff etablierte sich auf der Basis der antiken Bildung,
grundgelegt durch Cassiodor und Cassian, ein rationaler christlicher bzw. mo-
nastischer Wissensbegriff auf der Basis der artes liberales. Voll entwickelt stellte
die rationale Gotteserkenntnis in der Scholastik den wichtigsten Gotteszugang
dar,17 der erheblich dadurch an Gewicht gewann, als sich die Ausbildung der
Kleriker an den Kloster- und Domschulen bzw. Universitäten als Zugangsvor-
aussetzung zum Klerikeramt und zur Sakramentenspendung etablierte. Das
14 Gemeinhardt, Bildung (wie Anm. 1), S. 167.
15 Meister Eckharts Predigten (25-59), hg. und übers, von Josef Quint, München 1971, Bd. 2,
Pred. 40 278, 4-6: Und dar umbe, als sich der mensche mit minne ze gote blöz vüegende ist,
so wirt er entbildet und ingebildet und überbildet in der götlichen einförmicheit, in der er mit
gote ein ist. Stephan Brembeck, Der Begriff der Bildung bei Meister Eckhart, Passau 1998.
Eva Borst, Theorie der Bildung. Eine Einführung (Pädagogik und Politik 2), Baltmanns-
weiler 22011, S. 11-27.
16 Leben des heiligen Antonius (wie Anm. 6), S. 703.
17 Zuletzt Frank Rexroth, Fröhliche Scholastik. Die Wissensrevolution des Mittelalters,
München 2019, S. 51.