Überlegungen zu Wissenszugang und Selbstverständnis 1 429
ten der Philosophie.47 Im Vorwort zu seinem Monologion erklärt Anselm den
Entstehungskontext, die Methode und Intention seines mutigen Unterfangens.
Seine Mitbrüder hatten ihn gebeten, seine Betrachtungen und Argumentationen
über die Wesenheit Gottes, die er im Gespräch mit ihnen entwickelt hatte, in
einfacher Sprache und leicht verständlich aufzuschreiben. Dabei sollte er sich
bewusst nicht auf die Autorität der Bibel, sondern auf die Notwendigkeit von
Vernunftgründen stützen und jeden noch so kleinen vorstellbaren Einwand auf
diese Weise entkräften.48
Anselm von Canterbury hat die Aufgabe der Religiösen, Antworten auf die
existentiellen transzendenten Fragen des Menschen zu suchen, ins Zentrum sei-
nes Lebens gerückt. Sein Biograf Eadmer (1060-1129) bringt das im zweiten
Kapitel der Vita Anselmi eindrucksvoll und nicht ohne Humor zum Ausdruck:
Anselms conversio, die Entscheidung des Jugendlichen zum ,richtigen', nämlich
zum geistlichen Leben, beginnt mit einer Traum-Vision, bei der Anselm uner-
müdlich einen Berg hinaufsteigt, womit der Biograph Eadmer ganz im Sinne
von Antonius Aufstiegsparabel den zukünftigen inneren Seelenweg seines Prot-
agonisten visualisiert. Anselm erklimmt vorbei an den „müßigen Dienerinnen
des Herrn"49 den Weg hinauf zur curia des höchsten Königs, wo er schließlich
an der Tafel des Herrn Platz nimmt. Ihm wird auf Geheiß Gottes das sehr weiße
Brot (panis nitidissimus) der Eucharistie gereicht, von dem er im Angesicht Got-
tes erquickt wird.50 Diese Vision, die am Beginn von Anselms Aufstiegsweg
steht, wird implizit aufgegriffen, als er das Ziel seines irdischen Lebens erreicht
47 Anselm von Canterbury, Proslogion. Lateinisch- Deutsch, hg. von Franciscus Salesius
Schmitt, Stuttgart 31995, S. 13. Schmitt hebt in seiner Einleitung hervor, dass auch bei Au-
gustinus als dem Höhepunkt der okzidentalen Theologie Schrift- und Vernunftbeweis ne-
beneinander hergehen. Aber nur Anselm wagte es, Schrift- und Vernunftbeweis radikal zu
trennen und seine Theologie allein auf Vernunftbeweisen aufzubauen.
48 Anselm von Canterbury, Proslogion (wie Anm. 48), Prooemium, S. 7; vgl. auch die Kontro-
verse, die daraus entstand: Kurt Flasch, Einleitung, in: Kann Gottes Nicht-Sein gedacht
werden? Die Kontroverse zwischen Anselm von Canterbury und Gaunilo von Marmour-
tiers, Lateinisch-Deutsch, übers., erläutert und hg. von Burkhard Mojsisch (Excerpta clas-
sica 4), Kempten 1989, S. 7-48; Jörn Müller, Ontologischer Gottesbeweis? Zur Bedeutung
des Unum Argumentum in Anselm von Canterburys Proslogion, in: Anselm of Canterbury
(1033-1109) - philosophical theology and ethics, hg. von Roberto Hofmeister Pich, Turn-
hout 2011, S. 37-72.
49 Eadmer, The Life of St. Anselm. Archbishop of Canterbury, edited with Introduction, Notes
and Translation by Robert W. Southern (Medieval Texts), London 1962, cap. 2, S. 4: Verum
priusquam montem coepisset ascendere mulieres quae regis erant ancillae segetes metere, sed
hoc nimis negligenter faciebant et desidiose. Offensichtlich kritisiert Anselm (bzw. Eadmer)
hier vor allem die Stiftsdamen (ancillae dei), die im 12. Jahrhundert vielfach reformiert und
zu einer monastischen Regel gezwungen wurden.
50 Ebd. cap. 2, S. 4-5: Tune ad imperium dei panis ei nitidissimus per dapiferum affertur, eoque
coram ipso reficitur.
ten der Philosophie.47 Im Vorwort zu seinem Monologion erklärt Anselm den
Entstehungskontext, die Methode und Intention seines mutigen Unterfangens.
Seine Mitbrüder hatten ihn gebeten, seine Betrachtungen und Argumentationen
über die Wesenheit Gottes, die er im Gespräch mit ihnen entwickelt hatte, in
einfacher Sprache und leicht verständlich aufzuschreiben. Dabei sollte er sich
bewusst nicht auf die Autorität der Bibel, sondern auf die Notwendigkeit von
Vernunftgründen stützen und jeden noch so kleinen vorstellbaren Einwand auf
diese Weise entkräften.48
Anselm von Canterbury hat die Aufgabe der Religiösen, Antworten auf die
existentiellen transzendenten Fragen des Menschen zu suchen, ins Zentrum sei-
nes Lebens gerückt. Sein Biograf Eadmer (1060-1129) bringt das im zweiten
Kapitel der Vita Anselmi eindrucksvoll und nicht ohne Humor zum Ausdruck:
Anselms conversio, die Entscheidung des Jugendlichen zum ,richtigen', nämlich
zum geistlichen Leben, beginnt mit einer Traum-Vision, bei der Anselm uner-
müdlich einen Berg hinaufsteigt, womit der Biograph Eadmer ganz im Sinne
von Antonius Aufstiegsparabel den zukünftigen inneren Seelenweg seines Prot-
agonisten visualisiert. Anselm erklimmt vorbei an den „müßigen Dienerinnen
des Herrn"49 den Weg hinauf zur curia des höchsten Königs, wo er schließlich
an der Tafel des Herrn Platz nimmt. Ihm wird auf Geheiß Gottes das sehr weiße
Brot (panis nitidissimus) der Eucharistie gereicht, von dem er im Angesicht Got-
tes erquickt wird.50 Diese Vision, die am Beginn von Anselms Aufstiegsweg
steht, wird implizit aufgegriffen, als er das Ziel seines irdischen Lebens erreicht
47 Anselm von Canterbury, Proslogion. Lateinisch- Deutsch, hg. von Franciscus Salesius
Schmitt, Stuttgart 31995, S. 13. Schmitt hebt in seiner Einleitung hervor, dass auch bei Au-
gustinus als dem Höhepunkt der okzidentalen Theologie Schrift- und Vernunftbeweis ne-
beneinander hergehen. Aber nur Anselm wagte es, Schrift- und Vernunftbeweis radikal zu
trennen und seine Theologie allein auf Vernunftbeweisen aufzubauen.
48 Anselm von Canterbury, Proslogion (wie Anm. 48), Prooemium, S. 7; vgl. auch die Kontro-
verse, die daraus entstand: Kurt Flasch, Einleitung, in: Kann Gottes Nicht-Sein gedacht
werden? Die Kontroverse zwischen Anselm von Canterbury und Gaunilo von Marmour-
tiers, Lateinisch-Deutsch, übers., erläutert und hg. von Burkhard Mojsisch (Excerpta clas-
sica 4), Kempten 1989, S. 7-48; Jörn Müller, Ontologischer Gottesbeweis? Zur Bedeutung
des Unum Argumentum in Anselm von Canterburys Proslogion, in: Anselm of Canterbury
(1033-1109) - philosophical theology and ethics, hg. von Roberto Hofmeister Pich, Turn-
hout 2011, S. 37-72.
49 Eadmer, The Life of St. Anselm. Archbishop of Canterbury, edited with Introduction, Notes
and Translation by Robert W. Southern (Medieval Texts), London 1962, cap. 2, S. 4: Verum
priusquam montem coepisset ascendere mulieres quae regis erant ancillae segetes metere, sed
hoc nimis negligenter faciebant et desidiose. Offensichtlich kritisiert Anselm (bzw. Eadmer)
hier vor allem die Stiftsdamen (ancillae dei), die im 12. Jahrhundert vielfach reformiert und
zu einer monastischen Regel gezwungen wurden.
50 Ebd. cap. 2, S. 4-5: Tune ad imperium dei panis ei nitidissimus per dapiferum affertur, eoque
coram ipso reficitur.