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Kreative Impulse. Innovations- und Transferleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa <Veranstaltung, 2019, Heidelberg>; Burkhardt, Julia [Editor]
Kreative Impulse und Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa — Klöster als Innovationslabore, Band 9: Regensburg: Schnell + Steiner, 2021

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https://doi.org/10.11588/diglit.72131#0438
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Innovationen und kreative Impulse 1 437

und nicht selten stellen sich menschliche Wahrnehmungen von Altem und
Neuem, von vermeintlich Fehlerhaftem und Richtigem tatsächlich als unbere-
chenbar dar, unterliegen sie doch in stetem Fluss befindlichen Gruppendynami-
ken mit wandelnden Zeitgeschmäckern. Dieses Phänomen wird noch komple-
xer, wenn man es mit der Wahrnehmungsgebundenheit etwa der Imitation
zusammenführt. Denn offensichtlich sind selbst Innovationen ganz ohne Imita-
tionen nur schwer denkbar.
Ein kurzes Beispiel mag dies veranschaulichen: Gerardo Segarelli, ein durch-
aus faszinierender Charismatiker des 13. Jahrhunderts, den uns die Chronik des
Franziskaners Salimbene de Adam vorstellt, war ein religiöser Outsider in Ita-
lien, der eine nicht geringe Schar von Anhängern um sich versammelte.6 Sega-
relli trug weiße Kleider wie die Apostel, er rasierte sich nicht, trug seine Haare
lang, ließ sich (wie Jesus) beschneiden, predigte in den Weinbergen fremder
Leute, trank Milch aus den Brüsten junger Mütter und schlief in einer Krippe
wie das Christuskind.7 Während er bei seinen Anhängern Erfolg hatte, hielten
ihn die Franziskaner für einen gemeingefährlichen Irren, der nachahmte, was
nicht nachgeahmt werden durfte oder das, was erlaubt gewesen wäre, falsch aus-
führte. Solche Strategien der Delegitimation von vermeintlich zu kreativ Neuem
sind geradezu typisch.8
Hier schließt sich die Frage nahtlos an, aus welchen Gründen bestimmte
Neuentdeckungen, Neukonzeptionen und Erfindungen keine Chance auf
Dauerhaftigkeit hatten. In jedem Fall konnte auch Gerardo Segarelli auf einen
mehr oder weniger etablierten Pool von Modellen zurückgreifen und selbige -
selbst für den modernen Beobachter durchaus neuartig - in einer neuen ganz
eigenen kreativen Weise kombinieren. Ähnliches ließe sich für den einzigen,
uns bekannten zisterziensischen Regelkommentar zur Benediktsregel des Mit-
telalters konstatieren. Diese um 1210 in Pontigny verfasste Predigtserie, die
eine anhand der Struktur der Benediktsregel organisierte Mönchsenzyklopä-
die bietet, behauptete gar, dass diese Regel mit der Schöpfung von Gott selbst
für die Engel verfasst worden sei und Benedikt sie lediglich zu den Menschen

6 Vgl. zu ihm Giancarlo Andenna, II carisma negato. Gerardo Segarelli, in: Charisma und
religiöse Gemeinschaften im Mittelalter, hg. von Giancarlo ANDENNA/Mirko Breiten-
STEIN/Gert Melville (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im
Mittelalter. Abhandlungen 26), Münster 2005, S. 415-442.

7 Salimbene de Adam, Cronica, hg. von Guiseppe Scalia (Corpus Christianorum. Continua-
tio Mediaevalis 125), Turnhout 1998, S. 388-390.

8 Zu dieser Passage siehe Jörg Sonntag, Imitieren. Mechanismen eines kulturellen Prinzips im
europäischen Mittelalter: Eine Einführung (gemeinsam mit Gerald Schwedler), in: Nachah-
men im Mittelalter. Dimensionen - Mechanismen - Funktionen, hg. von Andreas Büttner
u. a. (Archiv für Kulturgeschichte. Beihefte 82), Köln/Weimar/Wien 2018, S. 9-25, hier S. 21.
 
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