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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0192
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166 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Schichtsphilosophie Hegels, auf die sich auch David Friedrich Strauß bezieht,
wenn er die Welt als „Werkstätte des Vernünftigen und Guten“ bezeichnet
(ANG 140). Da Hegel den historischen Prozess als Selbstentfaltung des objekti-
ven Geistes versteht, hält er im Zuge der geschichtlichen Entwicklung die je-
weils aktuelle Wirklichkeit nicht nur für historisch bedingt, sondern zugleich
auch für notwendig und vernünftig. In der Vorrede zu seinem Werk Grundlinien
der Philosophie des Rechts (1821) erklärt Hegel in diesem Sinne: „Was vernünf-
tig ist, das ist wirklich; / und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (G. W. F.
Hegel: Werke in 20 Bänden, 1986, Bd. 7, 24).
N. nimmt bereits in einer früheren Passage von UB I DS auf diese These
Bezug, wenn er die „Vernünftigkeit alles Wirklichen“ erwähnt (170, 3-4). Mit
polemischer Absicht rekurriert er auf Hegels Diktum, nicht zuletzt um den von
der „Hegelei [...] wirblicht“ gemachten Strauß (NL 1873, TI [30], KSA 7, 595) und
seine philiströsen Anhänger zu attackieren. Im Schlagwort von der „Vernünftig-
keit alles Wirklichen“ sieht N. lediglich eine griffige „Formel für die Vergötte-
rung der Alltäglichkeit“ (170, 2-3). Er versucht damit nicht nur den Idealismus
Hegels ad absurdum zu führen, sondern kritisiert zugleich auch philiströse
Adepten Hegels, die mit Versatzstücken aus seiner Philosophie ihre eigene Ba-
nalität zu kaschieren und ihre affirmative Einstellung zum Status quo zu recht-
fertigen versuchen. In diesem Sinne erklärt N.: Hegels Philosophie „schmei-
chelte sich damit bei dem Bildungsphilister ein, der [...] sich allein als wirklich
begreift und seine Wirklichkeit als das Maass der Vernunft in der Welt behan-
delt“ (170, 4-7). Bei seiner polemischen Deutung berücksichtigt N. allerdings
weder die Prämissen von Hegels Geschichtsphilosophie noch die spezifische
Bedeutung des Wirklichkeitsbegriffs im Rahmen des Hegelschen Idealismus.
Vgl. dazu die Hegel-Zitate in NK 170, 3-4.
197,15-17 das höchst anthropomorphische Gebühren einer nicht in den Schran-
ken des Erlaubten sich haltenden Vernunft] Der auf die altgriechischen Wörter
otvOpconoq (Mensch) und popcpq (Gestalt) zurückgehende Begriff ,anthropomor-
phisch‘ bedeutet: von menschlicher Gestalt, sich auf sie beziehend, menschen-
ähnlich. Die Vernunft erweist sich als ,anthropomorphisch‘, wenn sie die Wirk-
lichkeit vorschnell nach menschlichen Maßstäben und aus ihnen abgeleiteten
Urteilskriterien deutet. In seiner nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit
und Lüge im aussermoralischen Sinne kritisiert N. ,anthropomorphische4 Welt-
deutungen und problematisiert in diesem Zusammenhang auch den Wahr-
heitsbegriff, den er auf bloße Konvention zurückführt. N. schreibt: „Was ist
also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropo-
morphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und
rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem
Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken“ (KSA 1, 880,
 
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