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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0289
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Überblickskommentar, Kapitel 11.2: Quellen 263

rausgekommen. Außer der Betonung des Unbewußten, die allerdings für alle historischen
Einheitsbegriffe wesentlich, bei v. Hartmann aber ganz mythologisch behandelt ist, und
der Erweiterung des europäischen Gesichtskreises in der Richtung auf die indische Weis-
heit, die aber ohne jede konkrete Anschauung und Kenntnis des Ostens ist, wird man aus
v. Hartmanns Geschichtsphilosophie nichts gewinnen können. Lediglich der europäische
Horizont ist verlassen und die Zentralstellung des Christentums ist aufgegeben, was viel-
fach Nachfolge gefunden hat. Aber die Würdigung der pessimistischen Kulturen bleibt
rein doktrinär; an Scharfblicke wie bei Nietzsche ist nicht zu denken. Was Schopenhau-
er - freilich sehr gegen seinen Willen - der Historie geben konnte, das liegt bei Nietzsche,
nicht bei Hartmann, weshalb auch die beiderseitigen Abkömmlinge wenig voneinander
wissen wollen. Nicht einmal die kulturkritischen und asketischen Zusammenbrüche und
Neubildungen innerhalb des europäischen Kulturprozesses wird man bei ihm tiefer ge-
würdigt finden; das Christentum ist ihm wesentlich eine Häufung von Denkfehlern und
logischen Mißverständnissen und bestimmt, durch die Philosophie des Unbewußten er-
setzt zu werden. Den Pessimismus genießt man reiner bei Schopenhauer, wo er dann
auch grundsätzlich atheistisch und geschichtsfeindlich ist. Auch zeigen v. Hartmanns kul-
turphilosophische Analysen der Gegenwart einen merkwürdig philiströsen Konservatis-
mus, einen Fortschritt ohne Ziel und Werte, einen provisorischen Idealismus, der sich an
alle, in Deutschland momentan geltenden, konventionellen idealen Gehalte klammert,
aber ihre endliche Selbstvernichtung in Aussicht nimmt.“
In N.s nachgelassenen Notaten aus der Entstehungszeit der Historienschrift
finden sich Bezugnahmen auf Schillers Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und
zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (vgl. z. B. NL 1873, 29 [124],
KSA 7, 687) und Zitate aus Grillparzers kleiner Studie Ueber den Nutzen des
Studiums der Geschichte. Über die in der Historienschrift eruierbaren Grillpar-
zer-Zitate hinaus erweist sich die Geschichtsskepsis Grillparzers als konstitutiv
für die Konzeption von UB II HL. Dies gilt auch speziell für die Kritik am zeitge-
nössischen Umgang mit der ,Historie4, die bereits Grillparzer in seiner Schrift
Ueber den Nutzen des Studiums der Geschichte formuliert (vgl. Grillparzer:
Sämmtliche Werke, Bd. 9, 1872, 35-41). Zu N.s Rezeption von Grillparzers Ge-
schichtsskepsis vgl. die Zitate in NK 270, 9-15 und NK 290, 27 - 291, 7. Auch
Notate N.s aus der Entstehungszeit von UB II HL lassen eine intensive Orientie-
rung an Grillparzer erkennen: vgl. dazu NL 1873, 29 [60], KSA 7, 655 sowie
NL 1873, 29 [65], KSA 7, 657 und NL 1873, 29 [68], KSA 7, 659. - Zum gedankli-
chen Hintergrund von N.s Historienschrift gehören darüber hinaus auch seine
nachgelassenen Notate zu Goethes Geschichtsskepsis. Der Horizontbildung
dienen in UB II HL außerdem Konzepte zahlreicher anderer Referenzautoren.
Bei der Wahl des Titels von UB II Vom Nutzen und Nachtheil der Historie
für das Leben hat sich N. vermutlich von Grillparzers Titel Ueber den Nutzen
des Studiums der Geschichte anregen lassen. Als weitere mögliche Quelle für
den Titel kommt eine Aussage in Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille
und Vorstellung in Betracht, mit der dieser in § 13 auf Aspekte des vorangegan-
 
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