Überblickskommentar, Kapitel 11.9: Problematische Aspekte 389
Zugleich gerät auch aus dem Blick, dass gerade die Vielfalt von Fremd-
heitserfahrungen im Umgang mit der Geschichte zum Faszinosum und zum
produktiven Stimulans werden kann. Denn die Andersartigkeit des Vergange-
nen ermöglicht durch den Kontrast zur Gegenwart Erkenntniszuwachs, und
zwar auch denkstrategisch, weil die Konfrontation mit fremden Mentalitäten
immer wieder dazu herausfordern kann, eigene Überzeugungen und einge-
schliffene Urteilsschemata zu hinterfragen. Jenseits der von N. propagierten
„Einheit des künstlerischen Stiles“ in der Kultur kann auf diese Weise Flexibili-
tät im Umgang mit der Geschichte gefördert werden. Eine vorschnelle Festle-
gung auf das Postulat kultureller ,Einheit4 und auf das pragmatische Kriterium
des historischen ,Nutzens4 hingegen beschränkt die Offenheit für produktive
Irritationen, die zur Horizonterweiterung beitragen und das Urteil über das
weite Spektrum der Kulturgeschichte ausdifferenzieren können.
Während N. vor dem Hintergrund seiner eigenen Epoche (also im Zeitalter
des Imperialismus und nach dem deutsch-französischen Krieg) kulturelle Anta-
gonismen betont und über Sieg oder Niederlage als Wertungskriterium nach-
denkt (vgl. KSA 1, 159-164), legen aktuelle kulturwissenschaftliche Debatten
vielfältige Perspektiven auf Möglichkeiten interkultureller Vermittlung nahe.
Die Kategorie des ,Fremden4 kann dabei sogar zentrale Bedeutung „für einen
erneuerten Historismus“ bekommen, der auch eine moderne „Hermeneutik des
Fremden“ verlangt (Berger 1996, 92,106). In Abkehr von dogmatischen Einheits-
postulaten begreifen Kulturwissenschaftler des 20. und 21. Jahrhunderts die Kul-
tur als ein Interaktionsfeld mit heterogenen Strukturen und divergierenden Ten-
denzen, das zur Akzeptanz des Anderen und Fremdartigen herausfordert und
dadurch Denkhorizonte erweitert statt begrenzt. So werden interkulturelle Ver-
netzungen und ein durch Geschichtsreflexion geschulter Möglichkeitssinn zur
Zukunftschance par excellence.
5. Historische Faktizität oder strategische Geschichtskonstruktion:
Die problematische Fiktionalisierung der Geschichte
Eine zukunftsweisende Funktion der Historie für das Leben sieht N. bei der
monumentalischen Historie vor allem im Einsatz suggestiver Analogien und
verführerischer Illusionen: Die Vorstellung nützlicher Ideale, die von ge-
schichtlicher Erfahrung zwar inspiriert, nicht aber auch durch sie beglaubigt
sind, kann sich allerdings so weit von historischer Faktizität entfernen, dass
sie sogar die Grenze zur „freien Erdichtung“ oder zur „mythischen Fiction“
überschreitet (262,15-17). Wenn durch das Vorbild einer ins Monumentale stili-
sierten Vergangenheit Enthusiasmus und Tatkraft des Mutigen in der Gegen-
Zugleich gerät auch aus dem Blick, dass gerade die Vielfalt von Fremd-
heitserfahrungen im Umgang mit der Geschichte zum Faszinosum und zum
produktiven Stimulans werden kann. Denn die Andersartigkeit des Vergange-
nen ermöglicht durch den Kontrast zur Gegenwart Erkenntniszuwachs, und
zwar auch denkstrategisch, weil die Konfrontation mit fremden Mentalitäten
immer wieder dazu herausfordern kann, eigene Überzeugungen und einge-
schliffene Urteilsschemata zu hinterfragen. Jenseits der von N. propagierten
„Einheit des künstlerischen Stiles“ in der Kultur kann auf diese Weise Flexibili-
tät im Umgang mit der Geschichte gefördert werden. Eine vorschnelle Festle-
gung auf das Postulat kultureller ,Einheit4 und auf das pragmatische Kriterium
des historischen ,Nutzens4 hingegen beschränkt die Offenheit für produktive
Irritationen, die zur Horizonterweiterung beitragen und das Urteil über das
weite Spektrum der Kulturgeschichte ausdifferenzieren können.
Während N. vor dem Hintergrund seiner eigenen Epoche (also im Zeitalter
des Imperialismus und nach dem deutsch-französischen Krieg) kulturelle Anta-
gonismen betont und über Sieg oder Niederlage als Wertungskriterium nach-
denkt (vgl. KSA 1, 159-164), legen aktuelle kulturwissenschaftliche Debatten
vielfältige Perspektiven auf Möglichkeiten interkultureller Vermittlung nahe.
Die Kategorie des ,Fremden4 kann dabei sogar zentrale Bedeutung „für einen
erneuerten Historismus“ bekommen, der auch eine moderne „Hermeneutik des
Fremden“ verlangt (Berger 1996, 92,106). In Abkehr von dogmatischen Einheits-
postulaten begreifen Kulturwissenschaftler des 20. und 21. Jahrhunderts die Kul-
tur als ein Interaktionsfeld mit heterogenen Strukturen und divergierenden Ten-
denzen, das zur Akzeptanz des Anderen und Fremdartigen herausfordert und
dadurch Denkhorizonte erweitert statt begrenzt. So werden interkulturelle Ver-
netzungen und ein durch Geschichtsreflexion geschulter Möglichkeitssinn zur
Zukunftschance par excellence.
5. Historische Faktizität oder strategische Geschichtskonstruktion:
Die problematische Fiktionalisierung der Geschichte
Eine zukunftsweisende Funktion der Historie für das Leben sieht N. bei der
monumentalischen Historie vor allem im Einsatz suggestiver Analogien und
verführerischer Illusionen: Die Vorstellung nützlicher Ideale, die von ge-
schichtlicher Erfahrung zwar inspiriert, nicht aber auch durch sie beglaubigt
sind, kann sich allerdings so weit von historischer Faktizität entfernen, dass
sie sogar die Grenze zur „freien Erdichtung“ oder zur „mythischen Fiction“
überschreitet (262,15-17). Wenn durch das Vorbild einer ins Monumentale stili-
sierten Vergangenheit Enthusiasmus und Tatkraft des Mutigen in der Gegen-