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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0364
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344 Jenseits von Gut und Böse

was der Mensch einstmals war] Auf der Grundlage von Moritz von Engelhardts
Buch über Justinus Martyr (1878) polemisierte schon M 84 dagegen, dass die
Christen den Versuch gemacht hätten, „das alte Testament den Juden unter
dem Leibe wegzuziehen, mit der Behauptung, es enthalte Nichts als christliche
Lehren“ (KSA 3, 79, 29-31). In GM III 22 sollte das sprechende Ich gleichfalls
mit einer Opposition von Altem und Neuem Testament operieren (vgl. auch NK
72, 10-24), um gegen die christliche Tradition der hebräischen Bibel uneinge-
schränkt den Vorzug zu geben: „Das alte Testament — ja das ist ganz etwas
Anderes: alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm finde ich grosse Men-
schen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden,
die unvergleichliche Naivetät des starken Herzens; mehr noch, ich finde
ein Volk.“ (KSA 5, 393, 24-28) N.s sehr positive Sicht auf das Alte Testament
änderte sich in dem Augenblick, als ihm durch das (schon auf Lektürelisten
NL 1883, KSA 10, 15[60], 494, 13 u. in NL 1884/85, KSA 11, 29[67], 352, 16 ins
Auge gefasste) Studium der Werke von Julius Wellhausen, namentlich seiner
Prolegomena zur Geschichte Israels deutlich wurde, dass die scheinbar urtümli-
chen Texte des Alten Testaments, insbesondere der Pentateuch, weitgehend
eine späte, „priesterliche“ Bearbeitung darstellen dürften. In AC 26 heißt es in
polemischer Zuspitzung von Wellhausens Erkenntnissen: „Diese Priester ha-
ben jenes Wunderwerk von Fälschung zu Stande gebracht, als deren Dokument
uns ein guter Theil der Bibel vorliegt: sie haben ihre eigne Volks-Vergangenheit
mit einem Hohn ohne Gleichen gegen jede Überlieferung, gegen jede histori-
sche Realität ins Religiöse übersetzt“ (KSA 6, 194, 31-195, 3). JGB 52
und GM III 22 sind von diesem Verdacht noch unberührt; hier erscheint das
Alte Testament insgesamt als authentisches Dokument kultureller archaischer
Größe, von dem sich das Neue auf unvorteilhafteste Weise abhebt. Die ästheti-
sche Überhöhung alttestamentlicher Figuren überträgt NL 1885, KSA 11, 36[42],
568, 30-569, 7 (entspricht KGW IX 4, W I 4, 16, 22-34) auf die preußischen
Juden der damaligen Gegenwart, die unter einem „falschen Clima und der
Nachbarschaft unter unschönen und gedrückten Slaven Ungarn und Deut-
schen“ litten: „unter Portugiesen und Mauren bewahrt sich die höhere Rasse
des Juden ja im Ganzen ist vielleicht die Feierlichkeit des Tons und eine Art
von Heiligung der Leidenschaft auf Erden bisher noch nicht schöner dargestellt
worden als von gewissen Juden des alten Testaments: bei denen hätten auch
die Griechen in die Schule gehen können!“ „Grossen Stil“ attestierte JGB 250,
KSA 5, 192, 6-8 auch der von „den Juden“ initiierten Moral.
72, 7-10 wird dabei über das alte Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen
Europa, das durchaus gegen Asien den „Fortschritt des Menschen“ bedeuten
möchte, seine traurigen Gedanken haben] Die geographische Marginalisierung
Europas als Anhängsel Asiens intendiert eine Spitze gegen den europäischen
 
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