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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0481
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Stellenkommentar JGB 151, KSA 5, S. 99 461

doch erlogenen Welten (vgl. GD Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde,
KSA 6, 80 f.) die Welt selbst wiederzugewinnen.
151.
99,14 f. Ein Talent haben ist nicht genug: man muss auch eure Erlaubniss dazu
haben, — wie? meine Freunde?] In der Fassung von NL 1882, KSA 10, 3[1]146,
79, 17 f. richtet sich die Sentenz noch nicht an einen direkten Adressaten; ent-
sprechend sagt sie nicht, wer die „Erlaubniss“ erteilen muss: „Ein Talent ha-
ben ist nicht genug: man muß auch die Erlaubniß haben, es zu haben.“ Fast
Zeichen- und ganz wortidentisch ist die Version in NL 1882/83, KSA 10, 5[1]167,
206, 3f.
Von Wagner her vertraut mit der Definition des Talents „als die von natürli-
cher Befähigung getragene starke Neigung zur Aneignung vorzüglicher Fertig-
keiten im praktischen Befassen mit vorgefundenen künstlerischen Formbildun-
gen“ (Wagner 1907, 9, 165), konnte N. der im französischen Umfeld bereits
sprichwörtlich gewordenen Feststellung begegnen, dass das Talent allein nicht
genüge. Bei Diderot heißt es beispielsweise: „II ne suffit pas d’avoir du talent,
il faut y joindre le goüt.“ (Diderot 1818, 4/1, 529. „Talent zu haben, ist nicht
genug; man muss ihm auch den Geschmack hinzufügen.“) Aus dem Talent
ließen sich geistreiche Bonmots schmieden, die das Talent des Schmiedes be-
wiesen, so etwa in einem häufig kolportierten Urteil von Hector Berlioz: „Mey-
erbeer a non seulement le bonheur d’avoir du talent, mais, au plus haut degre,
le talent d’avoir du bonheur.“ (Berlioz 1870, 452, Fn. 1, vgl. Berlioz 1852, 65.
„Meyerbeer hat nicht nur das Glück, Talent zu haben, sondern in höchstem
Grade auch das Talent, Glück zu haben.“) 1882 hat N. in der Revue des deux
mondes Vorabdrucke aus den Souvenirs litteraires von Maxime Du Camp gele-
sen und daraus exzerpiert (vgl. Arenas-Dolz 2010b). Auch darin finden sich
einschlägige Reflexionen: „Mais dans cette ville de Paris [...] il ne suffit pas
d’avoir /747/ du talent; que dis-je? du genie, — il faut surtout du savoir-faire.“
(Du Camp 1882, 746 f. „Aber in dieser Stadt Paris [...] ist es nicht genug, /747/
Talent - was sage ich: Genie zu haben -, man braucht vor allem das Können.“)
Da JGB 151 den im Nachlass noch allgemein gehaltenen Gedanken persona-
lisierte, indem er an die „Freunde“ adressiert wurde, legt sich eine biographi-
sche Lesart nahe, die in der Sentenz eine Anspielung darauf sieht, dass nach
N.s eigenem wiederholtem Bekunden gerade seine Freunde ihn und seine Wer-
ke nicht verstanden, sie ihm also sein „Talent“ nicht wirklich zu „haben“ er-
laubt hätten. Zum Gestus von N.s Denken und Schreiben gehört es allerdings
gerade, niemanden um Erlaubnis zu fragen, sondern sich die Erlaubnis zum
Wagemut - der weit über „Talent“ hinausreicht - einfach zu nehmen.
 
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