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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0535
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Stellenkommentar JGB 191, KSA 5, S. 111 515

später der Umstand, dass es sich eben angeblich um ein „theologisches Pro-
blem“ handelt, das als solches gottlose Philosophen doch vermutlich nichts
mehr anzugehen bräuchte. Mit der Rückführung des Glauben-Wissen-Problems
auf das Instinkt-Vernunft-Problem kann JGB 191 es beliebig in die Vergangen-
heit, eben auf Sokrates zurückprojizieren: Sokrates habe sich in seinen öffentli-
chen Verlautbarungen „auf Seiten der Vernunft gestellt“ (112,12), jedoch insge-
heim die Macht der Instinkte nicht bändigen können; daher habe er den Ins-
tinkten folgen und die Vernunft bloß in Instinktdienste zwingen wollen, um
post festum Rechtfertigungsgründe zu liefern. Platon - und hier entsteht ein
Gegensatz zu JGB 190, dem zufolge sich Platon Sokrates virtuos eigenen Zwe-
cken gefügig zu machen verstand - unterliegt nun selbst der Sokratischen Ver-
führungskunst, indem er ernsthaft behauptet habe, dass Vernunft und Instinkt
gemeinsam auf das Gute zusteuerten. Die dialektische Vertracktheit von JGB
191 wird schließlich noch dadurch potenziert, dass behauptet wird, „in Dingen
der Moral“ herrsche seither der „Instinkt“ oder der „Glaube“ - „oder wie ich
es nenne, ,die Heerde“4 (112, 33-113, 1): Die Vertracktheit rührt daher, dass die
Verbindung von Instinkt und Herde einfach nur behauptet, aber keineswegs
mit „Gründen“ (112, 5) bewiesen ist. Im Gegenteil war noch in 112,14 f. von den
„vornehmen Athener[n]“ die Rede, „welche Menschen des Instinktes waren
gleich allen vornehmen Menschen“. Instinkt ist also zunächst nicht mit Her-
den- und Pöbelhaftigkeit assoziiert, sondern vielmehr mit Vornehmheit! Der
Bezug zur Herde kommt erst mit der Charakterisierung des Sokrates als „Plebe-
jer[.]“ in 112, 28 und mit der Rückerinnerung an JGB 190, wo der Sokratismus
mit „Pöbel“ affiliiert wurde (vgl. NK 111,15-22), ins Spiel. Nur wer den Überlis-
tungsstrategien des Textes von vornherein auf den Leim geht, kann die dialek-
tischen Taschenspielereien übersehen, mit denen er agitiert, und zwar im Inte-
resse, den Moralhaushalt der Gegenwart bis zurück zu Sokrates von herdenhaf-
ten Instinkten bestimmt zu sehen. Dabei verzichtet JGB 191 aber wie ein
aporetischer Dialog Platons auf eine alternative Lösung: Er entscheidet sich
nicht, wie der am Ende genannte Descartes, für einen einseitigen Rationalis-
mus, den der frühe N. in GT gerade an Sokrates so vehement kritisiert hat, aber
auch nicht explizit für das platonische Modell des Zusammenspiels. Wenn
man, wie JGB 191 es tut, den Gegensatz von Instinkt und Vernunft absolut setzt
(wozu es eigentlich keinen Grund gibt, am wenigsten, wenn man aus anderen
Texten N.s gelernt hat, scheinbar unhintergehbaren Binaritäten gründlich zu
misstrauen), gibt es außer Instinktdominanz, Vernunftdominanz oder gemein-
samer Herrschaft von Instinkt und Vernunft keine weitere Möglichkeit. Wenn
die Quintessenz die dem Ironiker Sokrates zugeschriebene Einsicht sein sollte,
dass nämlich „das Irrationale im moralischen Urtheile“ (112, 26 f.) bestimmend
werde, und, wie es zum Schluss gegen Descartes heißt, dass „die Vernunft [...]
 
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