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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0772
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752 Jenseits von Gut und Böse

haben, nämlich nach Freiheit, während für die Aristokraten die Freiheit offen-
sichtlich so sehr eine Selbstverständlichkeit ist, dass sie danach nicht zu stre-
ben brauchen, sondern sich - und das ist eine gängige Erfahrung beim Erb-
adel - den Traditionen und dem Habitus der Altvorderen willig unterordnen,
können sie doch im Unterschied zu den Sklaven sehr wohl akzeptieren, wer
und was sie sind - die verwegenen Starken vermögen nach JGB 29 sogar ihr
Unabhängigkeitsbedürfnis mühelos hintanzustellen (vgl. NK 47, 29-48, 1).
Die Ehrfurcht als Bestandteil des aristokratischen Habitus thematisieren
dann eingehender JGB 263 und JGB 287, KSA 5, 233, 15 f. (vgl. ferner NK 132,
20 f.). Der Freiheitsbegriff, den später GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38,
KSA 6, 139 f. entfalten sollte, impliziert freilich auch, dass echte Freiheit erst
als Freiheit gegen Widerstände möglich ist (vgl. NK 6/1, S. 511-513), so dass
sich der Sprechende bei aller heroischen Rhetorik fragen lassen müsste, ob er
dort selbst einer sklavenmoralischen Freiheitsvorstellung das Wort redete.
Auch GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38 kündigt die etwa von John Stuart
Mills On Liberty mitgetragene, in der Aufklärung sedimentierte Moralintuition
auf, wonach die individuelle Freiheit ihre Grenzen an der Freiheit der anderen
Individuen hat, will sich diese Freiheit doch gerade gegen andere Individuen
durchsetzen. Das mag dem Machtwillen entsprechen, aber nicht der in JGB
260 skizzierten aristokratischen Haltung, sondern dem sklavischen Trachten,
seinen Herrn als Herrn zu beseitigen und sich an dessen Stelle zu setzen.
In JGB 260 ist die Furcht vor der Selbstermächtigung der Sklaven mit Hän-
den zu greifen, so dass ihr eine aristokratische Moral des Maßhaltens und der
Erfurcht gegenübergestellt wird, die freilich den bei N. sonst so gern beschwo-
renen Machtwillen, die Macht zur Selbstermächtigung gerade unterdrückt: Ei-
nerseits denkt und wünscht hier jemand die Freiheit grenzenlos und gegen alle
Widerstände, andererseits schreckt er aber davor zurück, dass alle, auch die
zur Sklaverei Bestimmten, sich eine solche Freiheit zueigen machen. Entspre-
chende Lektüren N.s vertreten jedenfalls die Auffassung, dass eine solche skla-
venmoralische Universalisierung des Freiheitstrachtens unmittelbar drohe:
„Daher ist die individuelle Freiheit nicht der Ausgangspunkt, sondern das Ziel
der Gesellschaftsentwicklung; nicht Mittel, sondern Zweck der Gesellschaft“
(Stöpel 1881, 189, vgl. ebd., III—V u. 1-13).
212, 17-23 Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn, warum die Liebe als
Passion — es ist unsre europäische Spezialität — schlechterdings vornehmer
Abkunft sein muss: bekanntlich gehört ihre Erfindung den provengalischen Ritter-
Dichtern zu, jenen prachtvollen erfinderischen Menschen des „gai saber“, denen
Europa so Vieles und beinahe sich selbst verdankt.] Zum „amour-passion“, „Lie-
be als Leidenschaft / Passion“ vgl. NK 111, 1-5 (ferner NL 1880, KSA 9, 6[54],
207, If. u. NL 1886, KSA 12, 4[6], 180, 2-5); N.s Formel übernimmt später Niklas
 
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