EIN SENDBRIEVE MARTINI BUCERI
103
wort verachten, Gott lesteren, die Kirchenübungen verlachen, die getrewen diener des
EVangelii verfolgen und in irem dienst verhindern, allerlei onzucht begohn, geitzen 138
und alle werck des fleisches mit verhengtem zäum treiben 139 .
Nun, lieben brüder, in allen disen so schweren fehlen und warlich erschrocklichen
5 ergernussen und under so grewlicher schmach und lesterung der Göttlichen Majestet
von wegen solcher unser fehl und mengel sind wir nun so vil jar immer sicher hingan
gen 140 , Und sitemal 141 so vil Fürsten und Stett uns immer zügefallen, haben wir desto
weniger nach der gantzen gehorsam des Evangeli getrachtet, Uns auch die gnedigen
rüten, allerlei suchten, pestilentz, thewrung und aufrüren, damit uns der liebe Gott in
10 disen xxvii gnadenjaren hat so offt zu rechter büß wollen auffwecken, Ja, auch das
vilfeltig und gantz ernstlich drawen Gottes, damit er uns lengist 142 , und offt warlich mit
gar erschrocklichem anzeigen, die jetzige trübsal und des Türcken über- | D ia | fal, die
eüsserste zeitliche geisel 143 , gedrawen hat, gar wenig bewegen lassen. Ja, da unser getre-
wer Gott und vatter schon angefangen, uns mit jetziger rüten zü züchtigen, wo hat man
15 sich bei uns mit solchem erschlagenen 144 geist und zerknütschtem 145 hertzen zü Gott
gekeret, raht und hilff bei im allein gesüchet mit recht Gottseligem fasten, bitten, flehen,
abstellung aller ergernussen und ubung aller güten wercken, wie der Herr das fordert
Johelis 1 [5-15] und 2 [1-17] 146 , und uns des die Gottseligen König und Fürsten His-
kia, Josia, Esdra, Nehemia, Daniel, der könig von Ninive und andere exempel gegeben
2.0 haben?
Nach menschlichem rath und hilff hat man immer getrachtet, und sobald der liebe
Gott uns hat sehen und greiffen 147 lassen, wie es bei den leüthen immer fehlet und das ir
rath und hilff muß nichtig, ja, auch immer verderblich sein, wa sie nicht in im gesüchet
und gebrauchet werden, da ist hertz und müt gar dahin gefallen und eitel zagen und
25 hinsincken 148 , und offt nit allein im zeitlichen, herfürgebrochen 149 , damit alle weit sehe,
das die leüt auff den sand menschlicher klügheit und vermögens und nicht auff den
onbeweglichen felsen Christum haben gebawen 150 .
138. Geizig sein, nichts opfern wollen. Schmidt, S. 128.
139. Mit locker gelassenem Zügel, zügellos dahintreiben (mit hängenden Zügeln reiten).
Schmidt, S. 394. Weder bei Martin-Lienhart noch bei Wander verzeichnet. - B. will hier das Leben
und Treiben der »Epikuräer« (Anm. 113) zeichnen, wie er das ausführlich im >CXX. Psalm< von
1546, 2. Teil, getan hat.
140. Selbstsicher gelebt. Sicher = unbesorgt, sorglos. Lexer 2, Sp. 901 f. Diese sorglose Selbstsi
cherheit wird hier mit dem Zuwachs weltlicher Macht (Fürsten und Reichsstände) für die Protestan
ten (»so vil Fürsten und Stett uns zügefallen«) eindrucksvoll und sachlich richtig begründet.
141. Seitdem, seit der Zeit, als ... Mhd. »sitmales«. Lexer 2, Sp. 2015.
142. Lange, seit langem. Lexer 1, Sp. 1820.
143. Geißel, Peitsche (als Zuchtmittel). Lexer 1, Sp. 797. - »Jetzige trübsal und des Türcken
uberfal« meint die Niederlage der Schmalkaldener mit ihren Folgen auch gerade für die Stadt Straß
burg und die noch nicht gebannte Türkengefahr. Vgl. Anm. 2.
144. Niedergeschlagen, mutlos geworden. Lexer 1, Sp. 672.
145. Zermalmtem, gebrochenem. Schmidt, S. 437L, vgl. Ps 51,19.
146. Auf Joel, den »Heimsuchungspropheten«, nimmt B. auch im >CXX. Psalm< wiederholt
Bezug.
147. Begreifen, verstehen.
148. Mutlosigkeit und Hoffnungslosigkeit (mutlos’und ohne Hoffnung sein).
149. Herausgekommen. Götze, S. 120. 150. Vgl. Mt 7,24-27.
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wort verachten, Gott lesteren, die Kirchenübungen verlachen, die getrewen diener des
EVangelii verfolgen und in irem dienst verhindern, allerlei onzucht begohn, geitzen 138
und alle werck des fleisches mit verhengtem zäum treiben 139 .
Nun, lieben brüder, in allen disen so schweren fehlen und warlich erschrocklichen
5 ergernussen und under so grewlicher schmach und lesterung der Göttlichen Majestet
von wegen solcher unser fehl und mengel sind wir nun so vil jar immer sicher hingan
gen 140 , Und sitemal 141 so vil Fürsten und Stett uns immer zügefallen, haben wir desto
weniger nach der gantzen gehorsam des Evangeli getrachtet, Uns auch die gnedigen
rüten, allerlei suchten, pestilentz, thewrung und aufrüren, damit uns der liebe Gott in
10 disen xxvii gnadenjaren hat so offt zu rechter büß wollen auffwecken, Ja, auch das
vilfeltig und gantz ernstlich drawen Gottes, damit er uns lengist 142 , und offt warlich mit
gar erschrocklichem anzeigen, die jetzige trübsal und des Türcken über- | D ia | fal, die
eüsserste zeitliche geisel 143 , gedrawen hat, gar wenig bewegen lassen. Ja, da unser getre-
wer Gott und vatter schon angefangen, uns mit jetziger rüten zü züchtigen, wo hat man
15 sich bei uns mit solchem erschlagenen 144 geist und zerknütschtem 145 hertzen zü Gott
gekeret, raht und hilff bei im allein gesüchet mit recht Gottseligem fasten, bitten, flehen,
abstellung aller ergernussen und ubung aller güten wercken, wie der Herr das fordert
Johelis 1 [5-15] und 2 [1-17] 146 , und uns des die Gottseligen König und Fürsten His-
kia, Josia, Esdra, Nehemia, Daniel, der könig von Ninive und andere exempel gegeben
2.0 haben?
Nach menschlichem rath und hilff hat man immer getrachtet, und sobald der liebe
Gott uns hat sehen und greiffen 147 lassen, wie es bei den leüthen immer fehlet und das ir
rath und hilff muß nichtig, ja, auch immer verderblich sein, wa sie nicht in im gesüchet
und gebrauchet werden, da ist hertz und müt gar dahin gefallen und eitel zagen und
25 hinsincken 148 , und offt nit allein im zeitlichen, herfürgebrochen 149 , damit alle weit sehe,
das die leüt auff den sand menschlicher klügheit und vermögens und nicht auff den
onbeweglichen felsen Christum haben gebawen 150 .
138. Geizig sein, nichts opfern wollen. Schmidt, S. 128.
139. Mit locker gelassenem Zügel, zügellos dahintreiben (mit hängenden Zügeln reiten).
Schmidt, S. 394. Weder bei Martin-Lienhart noch bei Wander verzeichnet. - B. will hier das Leben
und Treiben der »Epikuräer« (Anm. 113) zeichnen, wie er das ausführlich im >CXX. Psalm< von
1546, 2. Teil, getan hat.
140. Selbstsicher gelebt. Sicher = unbesorgt, sorglos. Lexer 2, Sp. 901 f. Diese sorglose Selbstsi
cherheit wird hier mit dem Zuwachs weltlicher Macht (Fürsten und Reichsstände) für die Protestan
ten (»so vil Fürsten und Stett uns zügefallen«) eindrucksvoll und sachlich richtig begründet.
141. Seitdem, seit der Zeit, als ... Mhd. »sitmales«. Lexer 2, Sp. 2015.
142. Lange, seit langem. Lexer 1, Sp. 1820.
143. Geißel, Peitsche (als Zuchtmittel). Lexer 1, Sp. 797. - »Jetzige trübsal und des Türcken
uberfal« meint die Niederlage der Schmalkaldener mit ihren Folgen auch gerade für die Stadt Straß
burg und die noch nicht gebannte Türkengefahr. Vgl. Anm. 2.
144. Niedergeschlagen, mutlos geworden. Lexer 1, Sp. 672.
145. Zermalmtem, gebrochenem. Schmidt, S. 437L, vgl. Ps 51,19.
146. Auf Joel, den »Heimsuchungspropheten«, nimmt B. auch im >CXX. Psalm< wiederholt
Bezug.
147. Begreifen, verstehen.
148. Mutlosigkeit und Hoffnungslosigkeit (mutlos’und ohne Hoffnung sein).
149. Herausgekommen. Götze, S. 120. 150. Vgl. Mt 7,24-27.