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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2020
DOI Kapitel:
I. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Maienborn, Claudia: Von katholischen Kirchenoberhäuptern, ambulanten Versorgungsaufträgen und vierstöckigen Hausbesitzern: Auflösung eines grammatischen Trugbildes: Gesamtsitzung am 18. Juli 2020
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0037
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Claudia Maienborn

sein als Ausdruck für den Besitzer eines vierstöckigen Hauses. Ist sie aber nicht.
Die Bildungen in (6) gilt es also unbedingt auszuschließen. Aber was machen wir
dann mit Ausdrücken wie in (7a), die durchaus akzeptabel sind? Und was ist vor
allem mit der Myriade ganz und gar harmloser und vertrauter Instanzen dieses
Strukturmusters wie in (7b)?
(7) a. ambulanter Versorgungsauftrag, kommunalpolitischc Ehrenmedaille
b. deutsche Sprachwissenschaft, evangelisches Pfarrhaus, geheimes Wahlrecht,
neutestamentliche Textforschung, katholisches Kirchenoberhaupt
Mit einem pauschalen Bannspruch ist es also offenbar nicht getan. Sprachkritik
und Sprachpflege ziehen sich hier in aller Regel zurück. Der Zweifelsfälle-Duden
belässt es bei dem wenig besagenden Hinweis: „Bestimmte Fügungen dieser Art
haben sich jedoch durchgesetzt und sind sprachüblich geworden.“; s. Duden Bd. 9
(2001: 508). Aber wie und warum konnte sich die vermeintliche Fehlattribuierung
durchsetzen? Und warum hier und nicht bei den anderen Fällen?
Das also ist die Herausforderung, vor die uns die hier präsentierten Klam-
merparadoxien stellen: Es gilt zu klären, was hinter der abgestuften Zulässigkeit
steckt, mit der sich adjektivische Attribute auf den Nicht-Kopf eines NN-Kompo-
situms beziehen können. Diese reicht von vollkommen unauffälligen Bildungen
(z. B. deutsche Literaturgeschichte) über fragwürdige, mehr oder weniger tolerierte
Verbindungen (z. B. ambulanter Versorgungsauftrag) bis hin zu absurden Zerrbeispie-
len (z. B. vierstöckiger Hausbesitzer). Und es braucht eine Antwort auf die Frage,
wie die angepeilte Erklärung mit dem Kompositionalitätsprinzip in Einklang zu
bringen ist.
Die zweite Strategie zum Umgang mit Klammerparadoxien stammt von ak-
tuellen Semantiktheorien, und sie besagt: Erlauben! Es gibt mehrere Vorschläge,
die alle auf eine Liberalisierung der Komposition hinauslaufen. Besonders ein-
flussreich ist die Theorie von Larson (1998), die er am Beispiel von Strukturen
wie freier Denker, harter Arbeiter, eleganter Tänzer entwickelt. Diese sind parallel zu
unseren Klammerparadoxien aufgebaut. Auch hier scheint sich das Adjektiv auf
den Nicht-Kopf - in diesem Fall das eingebettete Verb - beziehen zu können.
Also: harter Arbeiter verstehen wir präferiert als Mensch, der hart arbeitet und nicht
als arbeitender Mensch, der hart ist. Der Ansatzpunkt, den die bisherigen Theo-
rien wählen, ist: mehr Transparenz beim Nomen. Der Nicht-Kopf wird kompo-
sitional zugänglich gemacht. Damit erhält das Adjektiv ganz regulär Zugang zum
Nicht-Kopf, und das Kompositionalitätsprinzip lizenziert beide Anschlussoptio-
nen; s. Maienborn (2020a, b) zu den Details der formalsemantischen Umsetzung
dieser Analyse.
Aus zwei Gründen sehe ich in den bisherigen Theorievorschlägen keine
attraktive Lösung für unsere Klammerparadoxien. Erstens, sie sind teuer! Das
Kompositionalitätsprinzip wird zwar beibehalten - es gibt keine unzulässigen

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