B. Die Mitglieder
Biographie“, die Latte im Juni 1955 der Göttinger Akademie vorlegte und die im
folgenden Jahr erschienen sind.59 Darin zieht Dihle zwar neben Theophrasts Cha-
rakteren und Plutarchs Kleomenes-Vita auch unzweifelhaft kanonische Texte heran
wie Platons Apologie und Aristoteles’ Rhetorik und Nikomachische Ethik. Doch nutzt
er diese Texte dazu, der antiken Biographie, also einer relativ späten und aus tra-
ditionell humanistischer Sicht eher entlegenen Erscheinungsform der antiken Li-
teratur, einen gegenüber den einschlägigen formgeschichtlichen Untersuchungen
Friedrich Leos60 ganz neuen und zugleich genuin humanistischen Aspekt abzuge-
winnen: Nach Dihle ist das Biographische überall dort zu greifen, wo das Wesen
einer unverwechselbaren Persönlichkeit durch ihren Lehenslauf (dies die genaue
Bedeutung von ßioc;) erfasst und ausgedrückt wird, d. h. durch die als Einheit auf-
gefasste Gesamtheit ihrer Handlungen und Schicksale, nicht etwa nur durch ein-
zelne charakteristische Reden, Handlungen oder Leistungen. Die erste Biographie
in diesem Sinne fand Dihle in Platons Apologie des Sokrates: Unter den Dialogen
Platons, in denen das Leben des Sokrates unter biographischem Aspekt thema-
tisiert werde, sei „nur die Apologie als geschlossenes Kunstwerk im ganzen der
Ausführung des biographischen Motivs gewidmet“61 - allerdings handele es sich
dabei insofern um eine geniale Antizipation, als Platon durch Intuition, Darstel-
lungskraft und Scharfblick zuwege gebracht habe,62 wofür die spätere, handwerks-
mäßige Biographie seit dem Hellenismus ein ethisches bzw. charakterkundliches
Begriffssystem benötigt habe, wie es erst Aristoteles und sein Schüler Theophrast
bereit gestellt haben.63 Den Zusammenhang zwischen der Gattung Biographie und
der philosophischen Ethik hat Dihle in der späteren Heidelberger Akademieab-
handlung über die Entstehung der historischen Biographie - d. h. über die römi-
sche Umfunktionierung der Biographie zu einer Form der Historiographie bei
Sallust - noch einmal prägnant zugespitzt: Biographie im definierten Sinne setzt
eine systematisierte Ethik voraus, „die den Lebenslauf des Menschen als Ganzes
in den Blick nimmt und ihn als sittliche, im Lebensvollzug erstrebte — erreichte
oder verfehlte - Verwirklichung des jedem Menschen von der Natur vorgezeich-
neten Telos verstehen lehrt“.64 Hieran mag deutlich werden, dass im Fall der grie-
chischen Biographie die Einbeziehung nichtkanonischer Texte in Verbindung mit
dem Stellen nichtkanonischer Fragen an kanonische Texte nicht nur unser Sach-
wissen über die Genese und den systematischen Ort einer Gattung der antiken
Literatur zu erweitern vermag, sondern auch unseren humanistischen Horizont: Die
Beschäftigung mit dem von Dihle am Leitfaden der Frage nach der Biographie neu
59 Dihle 1956.
60 Leo 1901.
61 Dihle 1956, 18.
62 Dihle 1956, 56.
63 Dihle 1956, 57-87.
64 Dihle 1987a, 21-22.
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Biographie“, die Latte im Juni 1955 der Göttinger Akademie vorlegte und die im
folgenden Jahr erschienen sind.59 Darin zieht Dihle zwar neben Theophrasts Cha-
rakteren und Plutarchs Kleomenes-Vita auch unzweifelhaft kanonische Texte heran
wie Platons Apologie und Aristoteles’ Rhetorik und Nikomachische Ethik. Doch nutzt
er diese Texte dazu, der antiken Biographie, also einer relativ späten und aus tra-
ditionell humanistischer Sicht eher entlegenen Erscheinungsform der antiken Li-
teratur, einen gegenüber den einschlägigen formgeschichtlichen Untersuchungen
Friedrich Leos60 ganz neuen und zugleich genuin humanistischen Aspekt abzuge-
winnen: Nach Dihle ist das Biographische überall dort zu greifen, wo das Wesen
einer unverwechselbaren Persönlichkeit durch ihren Lehenslauf (dies die genaue
Bedeutung von ßioc;) erfasst und ausgedrückt wird, d. h. durch die als Einheit auf-
gefasste Gesamtheit ihrer Handlungen und Schicksale, nicht etwa nur durch ein-
zelne charakteristische Reden, Handlungen oder Leistungen. Die erste Biographie
in diesem Sinne fand Dihle in Platons Apologie des Sokrates: Unter den Dialogen
Platons, in denen das Leben des Sokrates unter biographischem Aspekt thema-
tisiert werde, sei „nur die Apologie als geschlossenes Kunstwerk im ganzen der
Ausführung des biographischen Motivs gewidmet“61 - allerdings handele es sich
dabei insofern um eine geniale Antizipation, als Platon durch Intuition, Darstel-
lungskraft und Scharfblick zuwege gebracht habe,62 wofür die spätere, handwerks-
mäßige Biographie seit dem Hellenismus ein ethisches bzw. charakterkundliches
Begriffssystem benötigt habe, wie es erst Aristoteles und sein Schüler Theophrast
bereit gestellt haben.63 Den Zusammenhang zwischen der Gattung Biographie und
der philosophischen Ethik hat Dihle in der späteren Heidelberger Akademieab-
handlung über die Entstehung der historischen Biographie - d. h. über die römi-
sche Umfunktionierung der Biographie zu einer Form der Historiographie bei
Sallust - noch einmal prägnant zugespitzt: Biographie im definierten Sinne setzt
eine systematisierte Ethik voraus, „die den Lebenslauf des Menschen als Ganzes
in den Blick nimmt und ihn als sittliche, im Lebensvollzug erstrebte — erreichte
oder verfehlte - Verwirklichung des jedem Menschen von der Natur vorgezeich-
neten Telos verstehen lehrt“.64 Hieran mag deutlich werden, dass im Fall der grie-
chischen Biographie die Einbeziehung nichtkanonischer Texte in Verbindung mit
dem Stellen nichtkanonischer Fragen an kanonische Texte nicht nur unser Sach-
wissen über die Genese und den systematischen Ort einer Gattung der antiken
Literatur zu erweitern vermag, sondern auch unseren humanistischen Horizont: Die
Beschäftigung mit dem von Dihle am Leitfaden der Frage nach der Biographie neu
59 Dihle 1956.
60 Leo 1901.
61 Dihle 1956, 18.
62 Dihle 1956, 56.
63 Dihle 1956, 57-87.
64 Dihle 1987a, 21-22.
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