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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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Primavesi, Oliver: Albrecht Dihle: (28. 3. 1923 − 29. 1. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0102
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B. Die Mitglieder

— wobei wir es dahingestellt sein lassen können, ob man in diesem Gebot nicht
doch ein Insistieren auf einer ungeschmälerten Vergeltung sehen muss und nicht, wie
man aus zeitgemäßer Sorge um die Reputation des Alten Testaments neuerdings
vorgeschlagen hat, nur das Verbot eines Vergeltungs-Exzesses. Vom Grundsatz der
Talion macht die Goldene Regel nun aber einen verantwortungsethisch abstrahier-
ten Gebrauch, insofern sie vom Handelnden fordert, sich vor seinem Handlungs-
entschluss auf einen Perspektiuemuechsel einzulassen: Er solle den eigenen Umgang
mit einem Gegenüber stets unter die Bedingung stellen, dass er selbst an der Stelle
dieses Gegenübers einen solchen Umgang wünschen würde. Der Grundsatz der Ver-
geltung ist also nicht aufgehoben, aber dadurch auf eine geistigere Stufe gehoben,
dass vor jeder Handlung präventiv ihre Wirkung auf das Gegenüber und dessen sich
daraus möglicherweise ergebendes Vergeltungsstreben bedacht werden soll. Diese
präventive Abstraktion ist zudem in eine sprachlich knappe, einprägsame Form
gebracht. Nun ist die Goldene Regel auf griechischer Seite schon bei Herodot zum
ersten Mal bezeugt,70 also bereits im zweiten Drittel des 5. Jahrhunderts v. Chr.,
während sie auf jüdischer Seite erst im Späthellenismus auftritt und dort auf eine
Übernahme aus dem Griechischen zurückgehen dürfte: Dihle weist insbesondere
darauf hin, dass in der nach 132 n. Chr. entstandenen Übersetzung des hebräi-
schen Ben Sira ins Griechische („Jesus Sirach“) der für die Goldene Regel cha-
rakteristische Perspektivenwechsel an einer Stelle in den Text eingeführt wurde,71
an der er im inzwischen wieder aufgefundenen hebräischen Original (zwischen
190 und 167 v. Chr.) noch fehlt. Die frühe Bezeugung der Regel bei Herodot aber
hat Dihle mit der Tatsache verbunden, dass es die Sophisten waren, die im spä-
teren 5. Jahrhundert v. Chr. „sittliche Vorstellungen des Vulgärbewußtseins, des
common sense, in knappe, einprägsame und darum lehrbare Formulierungen von
höchstmöglichem Abstraktionsgrad gebracht“ haben.72 Daraus hat Dihle den plau-
siblen Schluss gezogen, dass Herodot die Goldene Regel aus sophistischer Quelle
bezogen hat;73 hierfür kann er auf die ohnehin notorisch enge Beziehung zwischen
Herodots Werk und der Sophistik verweisen.74
Dihle konfrontiert die Goldene Regel der sophistischen bzw. spätjüdischen
Populärethik sowohl mit dem großen, aus Pythagoreischen wie Sokratischen An-
regungen gespeisten ethischen Entwurf Platons als auch mit dem radikalen Neu-
ansatz, der in der Predigt Jesu vollzogen wird. Der Platonische Sokrates lehrt, dass

70 Herodot 3, 142 und 7, 136.
71 Siracides 31.15 (Rahlfs-Hanhart 2006, II 430): vöei Ta toü TtXqaiov £K asauTOÜ.
72 Dihle 1962a, 85. Der Münchner Philosoph Thomas Buchheim hat dafür die Formel von der
Sophistik als einer „Avantgarde des normalen Lebens“ (so der Titel seines 1986 erschienenen
Sophistik-Buches) gefunden.
73 Dihle 1962a, 100.
74 Zu diese Beziehung vgl. Dihle 1962b und, aus neuerer Zeit, die eingehende Studie von
Ubsdcll 1983.

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