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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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Primavesi, Oliver: Albrecht Dihle: (28. 3. 1923 − 29. 1. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0104
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B. Die Mitglieder

dafür ein, dass die Menschen für gewöhnlich nur Gutes mit Gutem vergelten,80
was aus der Sicht Jesu überhaupt kein Verdienst darstellt. Wenn demnach das Ge-
bot der Feindesliebe in der Feldrede des Lukasevangeliums explizit in kritischer
Wendung gegen die Goldene Regel vorgetragen wird, dann lässt sich innerhalb der
Evangelien, durch die Gegenüberstellung von Matthäus 7.12 und Lukas 6.31, das
Werden der Einsicht verfolgen, dass mit einer prinzipiellen Zurückweisung des Ta-
lionsprinzips, wie sie im Gebot der Feindesliebe vorliegt, auch die Goldene Regel
unvereinbar ist.
Die Bedeutung der antiken Populärethik liegt im Fall der von Dihle unter-
suchten Goldenen Regel darin, dass sowohl bei der Ethik des Platonischen Sokra-
tes als auch bei der Feldrede Jesu derenjeweils spezifische Differenz überhaupt erst
in Abhebung von jener Populärethik deutlich wird, die den unmittelbaren Bezugs-
punkt beider darstellt. Dieses Ergebnis entspricht in der Sache überraschend genau
der von Aristoteles zwar auch auf anderen Gebieten, doch in erster Linie bei der
ethischen Theoriebildung erklärtermaßen befolgten Methode, stets von den allge-
mein oder doch weithin angenommenen Meinungen (endoxa) auszugehen. Auch
in diesem Fall ist im Hinblick auf die Frage nach dem möglichen humanistischen
Ertrag der Polymathie, die wir im Anschluss an Paul Maas’ Ratschlag aufgeworfen
haben, zu konstatieren, dass Dihles Buch dem Leser nicht nur reiche sachliche
Belehrung über kanonische wie unkanonische, in diesem Fall auch jüdische und
neutestamentliche Texte vermittelt, sondern zugleich, durch die Erschließung der
populärethischen Voraussetzungen der Sokratisch-Platonischen wie der christli-
chen Ethik in der antiken Kultur, eine humanistische Horizonterweiterung.
Die paradigmatische Bedeutung von Dihles Studie über die „Goldene Regel“
blieb aufmerksamen Mitforschern nicht verborgen: Hinsichtlich der griechischen
Literatur des späten 5. und des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurde seine Anregung von
Sir Kenneth Dover aufgenommen, der 1974 ein Buch über die griechische Po-
pulärethik in der Zeit von Platon und Aristoteles veröffentlichte.81 Zugleich aber
lieferte Dihles Studie ein herausragendes Beispiel für die Fruchtbarkeit des For-
schungsprogramms „Antike und Christentum“, das der Münsteraner Kirchen-
historiker Franz Joseph Dölger (1879—1940) begründet hatte.82 Hierauf hat Jean
Pepin 1964 in seiner Rezension der „Goldenen Regel“ mit vollem Recht aufmerk-
sam gemacht:83 „Un modele de rechcrche, non seulement pour les historiens de
la morale et du droit, mais pour quiconque s’interesse ä la relation entre Antike
und Christentum“. So war es nur folgerichtig, dass Dihle 1964 in den Herausgeber-
kreis des von Theodor Kiauser und anderen Schülern EJ. Dölgers begründeten

80 Lc. 6.32-34 « Mt. 5.46-47.
81 Dover 1974.
82 Nicht zu verwechseln mit dem als externer Gutachter von Dihles Habilitationsschrift bereits
erwähnten Münchner Byzantinisten Franz Dölger (1891 —1968)!
83 Pepin 1962, 637.

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