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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Primavesi, Oliver: Albrecht Dihle: (28. 3. 1923 − 29. 1. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0107
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Nachruf auf Albrecht Dihle

Formelsystems der Gedächtnisentlastung bei mündlich improvisierendem Vortrag
epischer Dichtung dient, und dass sich das Homerische Formelsystem über meh-
rere Jahrhunderte hinweg in einer zunftmäßig weitergegebenen Tradition münd-
lich hervorgebrachter Epik hcrausgebildet habe. Dihle wurde mit der an Parry
anschließenden amerikanischen Homerforschung vor allem durch Parrys Schüler
und Assistenten Albert Bates Lord (1912 — 1991) vertraut, der damals in Harvard
lehrte und der sich nach Dihles Einschätzung um das Verständnis mündlicher
Epik bleibende Verdienste erworben hat. Während Parry nun aber zur Evidenz
gebracht hatte, dass im Homertext ein solches ebenso extensives wie ökonomi-
sches Formelsystem vorliegt, bleibt zu klären, was daraus für die Entstehung der
beiden überlieferten Epen Ilias und Odyssee selbst folgt. Sind sie wirklich, wie die
sogenannten „hard Parryists“ meinen, Produkte einer mündlichen Improvisation,
deren uns vorliegende Überlieferung dann nur so zu erklären wäre, dass sie, wie
Albert B. Lord annahm, einem Schreiber „diktiert“ wurden?
Mit dieser Frage setzt sich Dihle in seinem Buch „Homer-Probleme“
auseinander," das er 1965/66 in Harvard konzipierte und im Wesentlichen 1968 in
Stanford niederschrieb, auch wenn sich die Fertigstellung des Manuskripts noch
bis Mitte 1969 verzögerte, und zwar, wie er schreibt, „wegen der Wahrnehmung
administrativer Aufgaben, denen sich ein Professor in Deutschland heute weni-
ger denn je entziehen kann“.99 100 Diese Formulierung wird man nicht nur auf den
Umstand beziehen, dass Dihle in den reformfreudigen Jahren von 1967—1970
im Planungsbeirat des Kultusministers von Nordrhein-Westfalen (Fritz Holthoff,
SPD) für die Entwicklung des Hochschulwesens mitwirkte, sondern auch auf die
schwere Belastung des universitären Alltags durch die studentischen Institutsbe-
setzungen, „Streiks“, Go-ins und Teach-ins jener Zeit: Nach den Erfahrungen, die
Dihle damals machen musste, sollte es bis zum Anbruch der achtziger Jahre dau-
ern, bis seine Frau und er es wieder für vertretbar hielten, Studenten nach altem
Brauch zum Semesterschluss zu sich nach Hause einzuladen ...
Doch zurück zu Dihles Homer-Buch: Er beschränkt sich nicht darauf, seine
deutsche Leserschaft in die amerikanische Oral-Poetry-Forschung einzuführen,
wie es etwa zur gleichen Zeit auch Albin Lesky in seinem großen Homeros-Artikel
für die „Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft“ tat.101 Vielmehr
will er anhand der von Parry und seinen Schülern entwickelten Kriterien für die
Mündlichkeit der Homerischen Epen für zwei Partien der Ilias - die Überlistung
des Zeus durch die Liebeskünste seiner Gemahlin Here102 und den Zweikampf des
Aineias mit Achilleus103 - zeigen, dass sie sich gerade durch gehäufte Abweichun-
99 Dihle 1970.
100 Dihle 1970,5.
101 Lesky 1968a, Abschnitt II—III.
102 Ilias 14 (E), 153-362.
103 Ilias 20 (Y), 79-352.

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