B. Die Mitglieder
„Gott schuf den Menschen mit der Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterschei-
den und sich für das Gute zu entscheiden. Doch hat der Sündenfall, der Versuch
des Menschen, Unabhängigkeit von seinem Schöpfer zu gewinnen, den Willen, den
wichtigsten Faktor im Menschenleben, pervertiert, so daß er das Schlechte wählt,
auch wenn sein Besitzer das Rechte erkennt ... Nur die Gnade Gottes kann den
Menschen erneuern und seine ursprüngliche Freiheit wicderherstellen.“
Unser Resume von Dihles Sather Lectures muss wenigstens durch einen Hinweis
darauf ergänzt werden, dass Dihle sowohl Augustins Willensbegriff als auch die
Aristotelische bzw. Stoische Handlungstheorie, auf die wir uns der Kürze halber
beschränkt haben, jeweils vor den Hintergrund einer langen und komplexen Ent-
wicklung stellt, die mit dem Alten Testament bzw. mit Homer einsetzt. Augustins
Willensbegriff erscheint so als eine Synthese von Elementen beider Entwicklungs-
stränge bei deutlicher Präponderanz desJüdisch-Christlichen. Gerade diese antik-
christliche Synthese ist, so Dihle, wirkungsmächtig geworden. Denn dadurch,
dass Augustinus den menschlichen Willen der menschlichen Rationalität nicht
nur eigenständig gegenübergestellt, sondern sogar vorgeordnet hat, wurde er zum
Ahnherrn all jener späteren Denker, die - teilweise aus ganz anderen Gründen als
Augustinus - den menschlichen Willen der Vernunft entgegensetzen. Hierfür sei
beispielshalber nur auf Arthur Schopenhauers Feststellung verwiesen, dass „die
strenge Unterscheidung des Willens von der Erkenntniß, nebst dem Primat des er-
stem, ... den Grundcharakter meiner Philosophie ausmacht“.123 Philosophen hin-
gegen, die die Freiheit des Willens gerade im Gebrauch der praktischen Vernunft
begründet sehen möchten, werden die philosophiegeschichtliche Bedeutung des
Augustinus naturgemäß geringer und diejenige des stoischen Zustimmungsaktes
(synkatathesis, adsensio), als Vorläufer des Willensaktes, höher einschätzen als Dihle
es tat; als prominenter Vertreter dieser Position sei Michael Frede (1940 — 2007) ge-
nannt, der 1997/98 als 84. Sather Professor in Berkeley wirkte und dessen postum he-
rausgegebene Sather Lectures über den Begriff des freien Willens und den Ursprung
dieses Begriffs im antiken Denken124 zum guten Teil als Auseinandersetzung mit
Dihles Sather Lectures gelesen werden können.
Aus Kalifornien zurückgekehrt, folgte Dihle im Jahre 1974 einem Ruf an die
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; bereits im Jahre 1975 wurde er dann in
unsere Heidelberger Akademie aufgenommen, der er von 1980—1982 als Sekretär
ihrer philosophisch-historischen Klasse und von 1990—1994 als Präsident diente.
Von 1976 bis 1996 wirkte er zudem als Mitherausgeber der Zeitschrift „Antike und
Abendland“, die der von ihm sehr verehrte Hamburger Gräzist Bruno Snell bei
Kriegsende begründet hatte.
123 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweite, durchgängig verbesserte und
sehr vermehrte Auflage. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des
ersten Bandes enthält, Leipzig 1844, 498 (Ergänzungen zum vierten Buch, Kapitel 41).
124 Frede 2011.
112
„Gott schuf den Menschen mit der Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterschei-
den und sich für das Gute zu entscheiden. Doch hat der Sündenfall, der Versuch
des Menschen, Unabhängigkeit von seinem Schöpfer zu gewinnen, den Willen, den
wichtigsten Faktor im Menschenleben, pervertiert, so daß er das Schlechte wählt,
auch wenn sein Besitzer das Rechte erkennt ... Nur die Gnade Gottes kann den
Menschen erneuern und seine ursprüngliche Freiheit wicderherstellen.“
Unser Resume von Dihles Sather Lectures muss wenigstens durch einen Hinweis
darauf ergänzt werden, dass Dihle sowohl Augustins Willensbegriff als auch die
Aristotelische bzw. Stoische Handlungstheorie, auf die wir uns der Kürze halber
beschränkt haben, jeweils vor den Hintergrund einer langen und komplexen Ent-
wicklung stellt, die mit dem Alten Testament bzw. mit Homer einsetzt. Augustins
Willensbegriff erscheint so als eine Synthese von Elementen beider Entwicklungs-
stränge bei deutlicher Präponderanz desJüdisch-Christlichen. Gerade diese antik-
christliche Synthese ist, so Dihle, wirkungsmächtig geworden. Denn dadurch,
dass Augustinus den menschlichen Willen der menschlichen Rationalität nicht
nur eigenständig gegenübergestellt, sondern sogar vorgeordnet hat, wurde er zum
Ahnherrn all jener späteren Denker, die - teilweise aus ganz anderen Gründen als
Augustinus - den menschlichen Willen der Vernunft entgegensetzen. Hierfür sei
beispielshalber nur auf Arthur Schopenhauers Feststellung verwiesen, dass „die
strenge Unterscheidung des Willens von der Erkenntniß, nebst dem Primat des er-
stem, ... den Grundcharakter meiner Philosophie ausmacht“.123 Philosophen hin-
gegen, die die Freiheit des Willens gerade im Gebrauch der praktischen Vernunft
begründet sehen möchten, werden die philosophiegeschichtliche Bedeutung des
Augustinus naturgemäß geringer und diejenige des stoischen Zustimmungsaktes
(synkatathesis, adsensio), als Vorläufer des Willensaktes, höher einschätzen als Dihle
es tat; als prominenter Vertreter dieser Position sei Michael Frede (1940 — 2007) ge-
nannt, der 1997/98 als 84. Sather Professor in Berkeley wirkte und dessen postum he-
rausgegebene Sather Lectures über den Begriff des freien Willens und den Ursprung
dieses Begriffs im antiken Denken124 zum guten Teil als Auseinandersetzung mit
Dihles Sather Lectures gelesen werden können.
Aus Kalifornien zurückgekehrt, folgte Dihle im Jahre 1974 einem Ruf an die
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; bereits im Jahre 1975 wurde er dann in
unsere Heidelberger Akademie aufgenommen, der er von 1980—1982 als Sekretär
ihrer philosophisch-historischen Klasse und von 1990—1994 als Präsident diente.
Von 1976 bis 1996 wirkte er zudem als Mitherausgeber der Zeitschrift „Antike und
Abendland“, die der von ihm sehr verehrte Hamburger Gräzist Bruno Snell bei
Kriegsende begründet hatte.
123 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweite, durchgängig verbesserte und
sehr vermehrte Auflage. Zweiter Band, welcher die Ergänzungen zu den vier Büchern des
ersten Bandes enthält, Leipzig 1844, 498 (Ergänzungen zum vierten Buch, Kapitel 41).
124 Frede 2011.
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