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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Lachmann, Renate: Aleksandr Puškin Eugen Onegin und dessen Nachgeschichte im Werk Vladimir Nabokovs: Festrede
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0034
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12. Mai 2012

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dition aufgenommen und Teil des kulturellen Erbes zu werden. Allerdings ist die
Frage danach, was als kulturelles Erbe gelten könne, in ihrer Unentscheidbarkeit
Bestandteil russischen kulturellen Selbstverständnisses, des offiziellen wie des inoffi-
ziellen, und wird bis in die Gegenwart immer wieder neu gestellt. Dabei geht es vor
allem um die Bewertung von Kriterien wie ‘innovativ’ oder ‘konservativ’, in denen
sich Vorstellungen des Klassischen und Nicht-Mehr-Klassischen verbergen4. Auch
Puskins Aufstieg zum Nationaldichter war von einer keineswegs einhelligen Ein-
schätzung seines Werks begleitet. Zum einen galt er als Vollender der Literatur des
18. Jahrhunderts, d.h. als Konservativer, zum andern als Schöpfer der neueren russi-
schen Literatur, der sich Formexperimente erlaubte und stilistisch gänzlich neue
Wege betrat. Diese formale Mehrdeutigkeit seines Werks hat dessen Einordnung
durchaus erschwert und auch einhellige Urteile zunächst verhindert. Indem Puskin,
der archaisierende Neuerer5, über Stufen der Poetik des 18. Jahrhunderts zur
Romantik und dann zum Realismus gelangt ist, hat er in einer vergleichsweise
kurzen Schaffenszeit alle Richtungen des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts durch-
laufen: ein Dichter zwischen Auflehnung und Anpassung, ein poeta Indens, Meister
der hohen Ode, der poesie fugitive, der frivolen Dichtung, des romantischen Epos, der
romantischen Tragödie, der realistischen Erzählung. Er erscheint als ein Autor, der
seiner Gesellschaftsschicht verhaftet ist bis zum Duelltod, zugleich aber als Freiheits-
dichter hervortritt, der Verbannungsjahre hinnehmen muss.6
Dennoch wurde er, der Mehrdeutige, zum ‘Klassiker’ und damit fragloser
Bestandteil des kulturellen Erbes, womit sein Gewicht, seine Bedeutung für die rus-
sische Literatur hervorgehoben wird — Klassik ist hier weniger die Bezeichnung für
eine Stilrichtung als vielmehr der Begriff für Wert, für das Zeitlose, für das Exem-
plarische. Die Erhebung Puskins zum Klassiker führte zur Entstehung eines ihm gel-
tenden Kults, der in immer neuen Schüben zur Geltung kam. Es bedurfte allerdings
der nachgeborenen Autoren, um Puskin aus musealer Erstarrung heraus neu zu bele-
ben. So etwa versuchte Dostoevskij 1880 auf einer Puskin gewidmeten Gedenkfeier
den Dichter zu einem singulären Exponenten des Dichtertums zu erklären und ihn
zum ‘Über-Klassiker’ zu erheben — eine weitere Steigerung des Wert-Begriffs. Wie
keiner vor ihm, so heißt es, sei Puskin (vor allem mit seinem Eugen Onegin) zum
Schriftsteller des Volkes geworden (Volk als eine Art mystische Kommunikationsge-
meinschaft), ohne Puskin gebe es keine Hoffnung auf die zukünftige Bestimmung
Russlands in der europäischen Völkerfamilie. 1921 glückte dem symbolistischen
Dichter Alexander Blök die Revitalisierung des Autors in einer Rede, in der er
Puskin als Inspirationsquelle reklamiert, als Leitfigur und literarischen Ahnen. Das

4 Hierzu Renate Lachmann, „Die Ambivalenz der Klassik: Puskin und die russische Gedächtnis-
kultur“, in: R. L.., Gedächtnis und Literatur, Frankfurt/M 1990, S. 280—302
5 Zu diesem Begriff Jurij Tynjanov, Archaisten und Erneuerer (Archaisty i novatory, 1929), München
1967
6 Zu Lebens- und Werkgeschichte vgl. Reinhard Lauer, Aleksandr Puskin. Eine Biographie, München
2006
 
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