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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2012 — 2013

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I. Das Geschäftsjahr 2012
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Kemmerling, Andreas: Antrittsrede von Herrn Andreas Kemmerling: an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 21. Januar 2012
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https://doi.org/10.11588/diglit.55656#0120
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Andreas Kemmerling

139

Aufschlussreichste zu Fragen dieser Art nicht bei Philosophen gefunden — und wenn
doch einmal, dann nicht bei solchen, die versuchen, möglichst klar und scharf zu
argumentieren.
Das jedoch ist es gerade, was mich an der Philosophie so anzieht: der Versuch,
auch da bereits möglichst prägnante Argumente zu finden, wo selbst das, worum es
geht, immer noch undeutlich ist. „Ein philosophisches Problem hat die Form: Ich
kenne mich nicht aus“, schreibt Wittgenstein an einer markanten Stelle seines Spät-
werks. Wie so oft weiß man auch hier nicht, wieviel Ironie, insbesondere Selbstiro-
nie, darin schwingt. Wie dem auch sei. Die Hoffnung jedenfalls, eine definitive Ant-
wort auf genuin philosophische Fragen zu finden, nimmt ab, je intensiver man sich
mit ihnen auseinandersetzt. Andererseits, sich mit ihnen zu beschäftigen, ohne eine
wohlbegründete Antwort zu suchen, mag unterhaltsam sein und bildend, aber es ist
kein Philosophieren. Hoffentlich klinge ich nun nicht so, als hielte ich das systema-
tische Philosophieren für eine Form von Selbstquälerei. Weit gefehlt. Denn diese
zugestandenermaßen merkwürdig aussichtslose Tätigkeit scheint es an sich zu haben,
desto lustvoller zu werden, je länger und ernsthafter man sich ihr hingibt.
Hierzu fällt mir eine Stelle in Platons Gorgias ein. Kallikles, ein Mann mit robu-
stem Sinn für Macht und Lust, sagt dem Sokrates: Das Philosophieren mag zwar eine
hübsche Sache für junge Leute sein, um ihre intellektuelle Wendigkeit zu trainieren;
ein Älterer hingegen, der immer noch philosophiert, sei eine lächerliche Figur, ver-
diene eine Tracht Prügel. Nach meiner Vermutung findet der Dialog im Sommer 407
statt; damals war Sokrates fast genau so alt wie ich heute. Das macht vielleicht ver-
ständlich, dass ich mich irgendwie auch angesprochen fühle. Leider lässt Platon sei-
nen Sokrates nicht auf diese Bemerkung eingehen. An dessen Stelle hätte ich ver-
sucht, Kallikles bei seinem Hedonismus zu packen. Hätte ihn auf die Lust hingewie-
sen, die aus der ernsthaften Auseinandersetzung mit vermutlich unbeantwortbaren
Fragen auch noch im fortgeschrittenen Alter entstehen kann. — Das ist zwar nicht die
berühmte consolatio philosophiae. Aber immerhin liegt in diesem hedonischen
Aspekt etwas Tröstliches für einen in die Jahre gekommenen Philosophieprofessoren,
wenn er wieder einmal einsieht, dass sein Nachdenken ihn in eine der ungezählten
Sackgassen des Labyrinths geführt hat, in dem er seinem Beruf nachgeht.

In den vergangenen Jahren habe ich hier in Heidelberg an einigen Gesprächskreisen
und Arbeitsgruppen teilgenommen, deren Mitglieder aus sehr unterschiedlichen
Bereichen wissenschaftlicher Forschung kamen. Intensiver habe ich dies in meinem
Jahr als Marsilius-Kollegiat erlebt, in dem Herr Pirner, Herr Schneidmüller und ich
(also ein theoretischer Physiker, ein Historiker und ein Philosoph) die Möglichkeit
erkundeten, ein gemeinsames Forschungsprojekt zum Thema Unbestimmtheit zu
entwickeln. Solche Formen interdisziplinären Austauschs und insbesondere auch
wissenschaftlicher Kooperation empfand ich stets als bereichernd, gelegentlich auch
als stimulierend für meine eigene Arbeit. Ich freue mich auf solcherlei Aktivitäten
nun auch in dem besonderen Kreis, in den Sie mich aufgenommen haben. Und
hoffe, zumindest gelegentlich etwas Sinnvolles dazu beitragen zu können.
 
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