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ANTRITTSREDEN
Antrittsrede von Herrn JENS HALF WAS SEN
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 21. Juli 2012.
Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wie kommt jemand zur Philosophie? Die Frage ist im
autobiographischen Rückblick gar nicht leicht zu
beantworten. Man neigt vielleicht dazu, in Grübeleien,
die ja schon Kinder anstellen, den Beginn des eigenen
Weges in die Philosophie zu sehen. Doch gibt es einen
klassischen Text, der genau darum klassisch ist, weil er
die Frage, wie jemand in die Philosophie kommt,
grundsätzlich, also ein für allemal beantwortet. Und
kontingenterweise hat dieser Text für meinen Weg in
die Philosophie eine wichtige Rolle gespielt. Ich spreche von Platons Höhlen-
gleichnis.
Platon beschreibt im Höhlengleichnis Philosophie als Befreiung aus einem
universalen Verblendungszusammenhang, in dem wir Menschen, Platons Diagnose
zufolge, immer schon befangen sind. Diese Verblendung ist der Glaube an die Rea-
lität der sinnlich erscheinenden Welt, die unser Alltagsbewusstsein für das Reale, gar
für das einzig Reale hält. Die Philosophie befreit von dieser Verblendung, sie lehrt
uns, dass das Wahre und wirklich Seiende nicht das ist, was unser Alltagsbewusstsein
dafür hält. Philosophie ist also im Kern Metaphysik, revisionäre Metaphysik, wie man
heute sagt, die den o>//////o/7-se/7se-Realismus des Alltagsbewusstseins als Irrtum dekouv-
riert.Was der common sense für das Reale hält, ist in Wirklichkeit ein Spiel von Schat-
ten an der Höhlenwand. Um die Wahrheit zu erkennen, bedarf es einer „Umwen-
dung der ganzen Seele“ — periagöge holes tes psyches. Erst diese Umwendung der Seele
befreit uns vom Irrtum und ermöglicht einen Aufstieg zu immer höherer Erkennt-
nis, der sich in der Einsicht in das Absolute erfüllt. - Platon betont aber, dass die
Befreiung von den Fesseln des Irrtums und die Umwendung der Seele zur Wahrheit
niemand allein aus eigener Kraft vollbringen kann. Die Gefangenen in seiner Höhle
sind von Geburt an so gefesselt, dass sie ausschließlich auf die ihnen gegenüberlie-
gende Höhlenwand und das dort ablaufende Schattenkino blicken können.
„Jemand“ — tis — muss einen von den Fesseln lösen und nötigen, sich umzudrehen.
Wer dieser „jemand“ ist, sagt Platon nicht. Für mich war das Platon.
Ich las das Höhlengleichnis zum ersten Mal in der Untersecunda oder Ober-
tertia des Gymnasiums und war wie vom Schlag gerührt. Ich wollte genauer wissen,
was man zu sehen bekommt, wenn man sich mit ganzer Seele umwendet. Ich las den
Phaidon — und lernte dort, dass die Umwendung der Seele vom sinnlichen Schein
zur intelligiblen Wahrheit sich als Hineinwendung der denkenden Seele in sich, als
Selbstzuwendung des Denkens vollzieht, das in sich selbst die ewigen Ideen, die wahre
Realität findet. Ich las die ganze Politeia, in der mich bis heute nichts mehr fasziniert
ANTRITTSREDEN
Antrittsrede von Herrn JENS HALF WAS SEN
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 21. Juli 2012.
Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wie kommt jemand zur Philosophie? Die Frage ist im
autobiographischen Rückblick gar nicht leicht zu
beantworten. Man neigt vielleicht dazu, in Grübeleien,
die ja schon Kinder anstellen, den Beginn des eigenen
Weges in die Philosophie zu sehen. Doch gibt es einen
klassischen Text, der genau darum klassisch ist, weil er
die Frage, wie jemand in die Philosophie kommt,
grundsätzlich, also ein für allemal beantwortet. Und
kontingenterweise hat dieser Text für meinen Weg in
die Philosophie eine wichtige Rolle gespielt. Ich spreche von Platons Höhlen-
gleichnis.
Platon beschreibt im Höhlengleichnis Philosophie als Befreiung aus einem
universalen Verblendungszusammenhang, in dem wir Menschen, Platons Diagnose
zufolge, immer schon befangen sind. Diese Verblendung ist der Glaube an die Rea-
lität der sinnlich erscheinenden Welt, die unser Alltagsbewusstsein für das Reale, gar
für das einzig Reale hält. Die Philosophie befreit von dieser Verblendung, sie lehrt
uns, dass das Wahre und wirklich Seiende nicht das ist, was unser Alltagsbewusstsein
dafür hält. Philosophie ist also im Kern Metaphysik, revisionäre Metaphysik, wie man
heute sagt, die den o>//////o/7-se/7se-Realismus des Alltagsbewusstseins als Irrtum dekouv-
riert.Was der common sense für das Reale hält, ist in Wirklichkeit ein Spiel von Schat-
ten an der Höhlenwand. Um die Wahrheit zu erkennen, bedarf es einer „Umwen-
dung der ganzen Seele“ — periagöge holes tes psyches. Erst diese Umwendung der Seele
befreit uns vom Irrtum und ermöglicht einen Aufstieg zu immer höherer Erkennt-
nis, der sich in der Einsicht in das Absolute erfüllt. - Platon betont aber, dass die
Befreiung von den Fesseln des Irrtums und die Umwendung der Seele zur Wahrheit
niemand allein aus eigener Kraft vollbringen kann. Die Gefangenen in seiner Höhle
sind von Geburt an so gefesselt, dass sie ausschließlich auf die ihnen gegenüberlie-
gende Höhlenwand und das dort ablaufende Schattenkino blicken können.
„Jemand“ — tis — muss einen von den Fesseln lösen und nötigen, sich umzudrehen.
Wer dieser „jemand“ ist, sagt Platon nicht. Für mich war das Platon.
Ich las das Höhlengleichnis zum ersten Mal in der Untersecunda oder Ober-
tertia des Gymnasiums und war wie vom Schlag gerührt. Ich wollte genauer wissen,
was man zu sehen bekommt, wenn man sich mit ganzer Seele umwendet. Ich las den
Phaidon — und lernte dort, dass die Umwendung der Seele vom sinnlichen Schein
zur intelligiblen Wahrheit sich als Hineinwendung der denkenden Seele in sich, als
Selbstzuwendung des Denkens vollzieht, das in sich selbst die ewigen Ideen, die wahre
Realität findet. Ich las die ganze Politeia, in der mich bis heute nichts mehr fasziniert