Steffen Patzold
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die früheren Jahrhunderte, und schaffte es gerade einmal von Mönchen bis zu
Bischöfen. Ich wollte genauer wissen: Wie sah die Vor- und Frühgeschichte jener
geistlichen Fürstentümer aus, die die politische Landkarte des Heiligen Römischen
Reichs bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts prägten?
Also las ich Literatur über Macht, über Institutionalisierungen und Strukturie-
rungen, und erfreute mich an Anthony Giddens. Ich wollte eine Geschichte
erzählen, deren Protagonisten ungefähr so zielgerichtet durchs Leben stolperten wie
ich selbst; eine Geschichte, die die Wahrnehmungen und Deutungen der Akteure
ernstnimmt und ihr Handeln von dort aus verständlich macht; vor allem aber eine
Geschichte, in der die Akteure zwar jeweils ihre eigenen Interessen, Intentionen und
Motive haben, die Konsequenzen ihres Handelns aber doch ganz anders aussehen, als
jeder einzelne von ihnen es je wollte. So entstand ein viel zu dickes Buch: Es han-
delt von einer kleinen Gruppe von Geistlichen und Laien, die in den 820er und 30er
Jahren untereinander um Einfluss bei Hof und Nähe zum Herrscher streiten, zu Kai-
ser Ludwig dem Frommen. Quasi nebenher bauen diese Leute in ihrer Konkurrenz
aus älteren Versatzstücken ein neues Denkmodell zusammen - ein Modell, das das
Verhältnis von Bischöfen und Königen in neuer Weise ordnet, in den folgenden
Jahrzehnten das Handeln der Zeitgenossen zunehmend prägt und Prozesse der Insti-
tutionalisierung antreibt, die überhaupt erst das ermöglichen, was Handbücher
früher als „ottonisch-salische Reichskirchensystem“ bezeichnet und als Wurzel der
geistlichen Fürstentümer betrachtet hatten.
2006 reichte ich meine Habilitationsschrift ein, und mein Sohn kam auf die
Welt. Ich war nun ein arbeitsloser Privatdozent, und es fügte sich glücklich, dass just
in dieser Zeit eine ganze Serie von Professuren für die Geschichte des frühen und
hohen Mittelalters frei wurde. Bei meiner Bewerbung in Tübingen konnte ich
immerhin sicher sein, dass ich dort nicht die geringste Chance hatte. Denn die
Mediävistik in Tübingen: das war die Heimat der großen Texteditionen - etwas, das
ich still bewundert, aber nie selbst gemacht hatte. Irgendwie kam es dann doch
anders; und in Tübingen gefallt es mir nun so gut, dass ich gern dort geblieben bin,
auch als ich nach Bern oder Münster hätte gehen können.
Ich stolpere nun also am Neckar weiter. Und mittlerweile hat mich auch der
„genius loci“ in den Bann geschlagen. Gemeinsam mit drei Kollegen — Stefan Esders
in Berlin, Karl Ubl in Köln und Philippe Depreux in Limoges — habe ich ein Pro-
jekt begonnen, von dem ich vor Tübingen nicht einmal geträumt hätte: Wir berei-
ten eine neue Edition der Kapitularien der Karolingerzeit vor. Kapitularien: Das sind
faszinierende Texte, Dokumente, die unmittelbar aus der Politik hervorgegangen
sind, Überreste der politischen Entscheidungsfindung im 8. und 9. Jahrhundert.
Wer wissen will, wie Karl der Große Politik machte, muss solche Kapitularien aus-
werten. Leider haben diese Texte aber eine hochkomplexe Überlieferung, die ganz
grundsätzliche Fragen aufwirft: Konzepte wie Autorschaft und Archetyp, Originalität
und Kopie scheitern allesamt fröhlich; Kapitularien sind instabile Texte, und oft
genug ist nicht einmal klar, wo ein Kapitular endet und wo das nächste beginnt.
Solches Material überlieferungsgetreu zu edieren, das erlauben erst die heutigen
Möglichkeiten der Informationstechnologie. Und so stecke ich nun unversehens in
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die früheren Jahrhunderte, und schaffte es gerade einmal von Mönchen bis zu
Bischöfen. Ich wollte genauer wissen: Wie sah die Vor- und Frühgeschichte jener
geistlichen Fürstentümer aus, die die politische Landkarte des Heiligen Römischen
Reichs bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts prägten?
Also las ich Literatur über Macht, über Institutionalisierungen und Strukturie-
rungen, und erfreute mich an Anthony Giddens. Ich wollte eine Geschichte
erzählen, deren Protagonisten ungefähr so zielgerichtet durchs Leben stolperten wie
ich selbst; eine Geschichte, die die Wahrnehmungen und Deutungen der Akteure
ernstnimmt und ihr Handeln von dort aus verständlich macht; vor allem aber eine
Geschichte, in der die Akteure zwar jeweils ihre eigenen Interessen, Intentionen und
Motive haben, die Konsequenzen ihres Handelns aber doch ganz anders aussehen, als
jeder einzelne von ihnen es je wollte. So entstand ein viel zu dickes Buch: Es han-
delt von einer kleinen Gruppe von Geistlichen und Laien, die in den 820er und 30er
Jahren untereinander um Einfluss bei Hof und Nähe zum Herrscher streiten, zu Kai-
ser Ludwig dem Frommen. Quasi nebenher bauen diese Leute in ihrer Konkurrenz
aus älteren Versatzstücken ein neues Denkmodell zusammen - ein Modell, das das
Verhältnis von Bischöfen und Königen in neuer Weise ordnet, in den folgenden
Jahrzehnten das Handeln der Zeitgenossen zunehmend prägt und Prozesse der Insti-
tutionalisierung antreibt, die überhaupt erst das ermöglichen, was Handbücher
früher als „ottonisch-salische Reichskirchensystem“ bezeichnet und als Wurzel der
geistlichen Fürstentümer betrachtet hatten.
2006 reichte ich meine Habilitationsschrift ein, und mein Sohn kam auf die
Welt. Ich war nun ein arbeitsloser Privatdozent, und es fügte sich glücklich, dass just
in dieser Zeit eine ganze Serie von Professuren für die Geschichte des frühen und
hohen Mittelalters frei wurde. Bei meiner Bewerbung in Tübingen konnte ich
immerhin sicher sein, dass ich dort nicht die geringste Chance hatte. Denn die
Mediävistik in Tübingen: das war die Heimat der großen Texteditionen - etwas, das
ich still bewundert, aber nie selbst gemacht hatte. Irgendwie kam es dann doch
anders; und in Tübingen gefallt es mir nun so gut, dass ich gern dort geblieben bin,
auch als ich nach Bern oder Münster hätte gehen können.
Ich stolpere nun also am Neckar weiter. Und mittlerweile hat mich auch der
„genius loci“ in den Bann geschlagen. Gemeinsam mit drei Kollegen — Stefan Esders
in Berlin, Karl Ubl in Köln und Philippe Depreux in Limoges — habe ich ein Pro-
jekt begonnen, von dem ich vor Tübingen nicht einmal geträumt hätte: Wir berei-
ten eine neue Edition der Kapitularien der Karolingerzeit vor. Kapitularien: Das sind
faszinierende Texte, Dokumente, die unmittelbar aus der Politik hervorgegangen
sind, Überreste der politischen Entscheidungsfindung im 8. und 9. Jahrhundert.
Wer wissen will, wie Karl der Große Politik machte, muss solche Kapitularien aus-
werten. Leider haben diese Texte aber eine hochkomplexe Überlieferung, die ganz
grundsätzliche Fragen aufwirft: Konzepte wie Autorschaft und Archetyp, Originalität
und Kopie scheitern allesamt fröhlich; Kapitularien sind instabile Texte, und oft
genug ist nicht einmal klar, wo ein Kapitular endet und wo das nächste beginnt.
Solches Material überlieferungsgetreu zu edieren, das erlauben erst die heutigen
Möglichkeiten der Informationstechnologie. Und so stecke ich nun unversehens in