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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2020
DOI Kapitel:
I. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Maienborn, Claudia: Von katholischen Kirchenoberhäuptern, ambulanten Versorgungsaufträgen und vierstöckigen Hausbesitzern: Auflösung eines grammatischen Trugbildes: Gesamtsitzung am 18. Juli 2020
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0035
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Claudia Maienborn


Demnach liegt eine widersprüchliche Strukturzuordnung zwischen Morphologie
und Syntax auf der einen Seite und Semantik auf der anderen vor. Das ist die
Klammerparadoxie. Und das ist ein Skandal! Denn wenn Syntax und Semantik
solcherart aus dem Takt geraten, steht eine der Grundeinsichten zur Natur von
Sprache auf dem Spiel, dass nämlich die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks
sich aus der Bedeutung seiner Teile ergibt, nach Maßgabe ihrer strukturellen Ver-
bindung. Dieses mit Frege (1892) verbundene Kompositionalitätsprinzip nimmt
eine grundsätzliche Parallelität von morphosyntaktischem und semantischem
Strukturaufbau an, an deren Kern keine um formale Präzision bemühte semanti-
sche Theorie je rühren wird.
(2) Kompositionalitätsprinzip
Die Bedeutung eines komplexen Ausdrucks ergibt sich aus der Bedeutung sei-
ner Teile nach Maßgabe ihrer morphosyntaktischen Kombination.
An dem simplen Beispiel in (3) will ich die Wirksamkeit des Kompositionalitäts-
prinzips illustrieren.
(3) a. Bienenhonig
b. Honigbienen
Wir haben in (3a) und (3b) die gleichen Bestandteile: Honig und Bienen; und es
ist allein die morphologische Struktur, die festlegt, wie wir das jeweilige Kom-
positum interpretieren. Es gibt dabei keinerlei Verhandlungsspielraum. Schauen
wir uns den Fall in (3a) genauer an: Das Kompositum besteht aus den beiden
Nomen Biene(n) und Honig, die ihre jeweilige Bedeutung einbringen. Die Mor-
phologie weist den rechten Bestandteil (N2) als den Kopf des Kompositums aus,
den linken (N0 als Nicht-Kopf. Und es ist der Kopf N2, der die wesentlichen
Eigenschaften des Kompositums bestimmt: Bienenhonig bezeichnet Honig, und
zwar von Bienen gemachter Honig. Wenn nun ein Adjektiv wie flüssig dazu-
kommt, dann bezieht es sich auf das Kompositum als Ganzes; s. (4). Das Adjek-
tiv kann nicht in das Kompositum „hineinschauen“. Es hat keinen Zugang zum
Nicht-Kopf Ni.

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