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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Primavesi, Oliver: Albrecht Dihle: (28. 3. 1923 − 29. 1. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0094
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B. Die Mitglieder

Angesichts der intellektuellen Prioritäten unserer Gegenwart konnte es leider
nicht überraschen, dass eine angesehene Tageszeitung am 12.2.2020 anlässlich von
Dihles Tod anstelle eines Nachrufs vielmehr eine Kolumne zum Thema „Albrecht
Dihle und sein Lehrer“35 bot, und dass mit „sein Lehrer“ natürlich der Parteige-
nosse Deichgräber gemeint war, während der katholische Priester A. M. Schneider
gar nicht und der wegen seiner jüdischen Abstammung verfolgte Kurt Latte nur
nolens nölens, als Examinator beim Rigorosum, erwähnt wird. Demgemäß kommt
in dieser unter den griffigen Obertitel „Vom Pathos zum Logos“ gestellten Kolum-
ne von Dihles gesamtem CEuvre einzig und allein seine von Deichgräber angeregte,
wenngleich nicht mehr begutachtete Dissertation in den Blick, und auch diese nur
im Hinblick auf die einzige Frage, ob der junge Dihle sich in seinen Wortuntersu-
chungen zum altgriechischen Volksbegriff von der völkischen Ideologie des Nati-
onalsozialismus beeinflusst zeigt. Das Resultat dieser politischen Überprüfung ist
eine vom Feuilletonisten ehrlich eingestandene Fehlanzeige: Abgesehen von der
Gesamttendenz der Arbeit - die ja, wie wir sahen, gerade dies zeigen will, „dass in
Griechenland die Lebensordnungen [...] andere waren als ,das Volk4“36 - erklärt
Dihle auch bei seiner zu Vergleichszwecken vorgenommenen Bestimmung der
Bedeutung von „Volk“ im Deutschen, dass er „von den jungen Ableitungen ,völ-
kisch4 u. ä. ganz absehen“ will.37 Gleichwohl hielt der Feuilletonist zäh an seiner
nun einmal gefundenen Pathos-Logos-Formel fest: Zu verführerisch war wohl der
Einfall, Dihle mittels einer Parodie von Wilhelm Nestles Buchtitel „Vom Mythos
zum Logos“38 gönnerhaft einen postumen Persilschein über seine frühe Emanzi-
pation vom völkischen Pathos auszustellen. Zur Rettung dieses Einfalls präsen-
tiert er deshalb in kühner Improvisation einen Aufsatz von Dihles Lehrer Karl
Deichgräber über Aischylos’ Perser39 als den „pathetischen“ Ausgangspunkt, von
dem Dihle sich dann schon gleich in seiner Dissertation in Richtung Logos entfernt
habe. Doch in Wahrheit bezeichnetpathos bei Aischylos wie bei seinem Interpreten
Deichgräber schlicht das Leid, das der PerserkönigXerxes sich und seinen Unterta-
nen durch seine Hybris zuzog; und mit völkischem „Pathos“ als einem Ingrediens
nationalistischer Propaganda der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat alles dieses
nicht nur bei Dihle, sondern auch bei Deichgräber nicht das mindeste zu tun. So
darf die Pathos-Logos-Formel zwar als ein geradezu idealtypisches Beispiel für die
intellektuelle Physiognomie unseres „feuilletonistischen Zeitalters“40 gelten, doch
über Dihles geistige Entwicklung sagt sie nichts.

35 FAZ vom 12.2.2020, Seite N3.
36 Dihle 1946, 75.
37 Dihle 1946, 26.
38 Nestle 1940.
39 Deichgräber 1941.
40 Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel (1943), Einleitung.

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