Nachruf auf Albrecht Dihle
nämlich die Ausbildung von Gymnasiallehrern der beiden alten Sprachen, zu be-
einträchtigen drohte. Hierzulande galt nämlich die Maxime der Einheit von Lehre
und Forschung, und die Forschung zu antiken Texten ist, angesichts ihrer in vielen
Fällen bis auf die Renaissance zurückreichenden Tradition, durch ein sehr hohes
Maß an Spezialisierung gekennzeichnet, und zudem, aufgrund des ungeheuren
Umfangs vor allem der griechischen Literatur des Altertums, durch ein sehr weites
Spektrum von Gegenständen, was seit dem 19. Jahrhundert mit einer dezidiert his-
torisierenden und damit distanzierenden Perspektive verbunden ist. In den Worten
der Göttinger Prorektoratsrede Ulrichs von Wilamowitz-Moellendorff:48
„Die Partikel äv und die Entclechic des Aristoteles, die heiligen Grotten Apollons
und der Götze Besas, das Lied der Sappho und die Predigt der heiligen Thekla, die
Metrik Pindars und der Messtisch von Pompeji, die Fratzen der Dipylonvasen und
die Thermen Caracallas, die Amtsbefugnisse der Schultheissen von Abdera und die
Thaten des göttlichen Augustus, die Kegelschnitte des Apollonios und die Astrologie
des Petosiris: alles, alles gehört zur Philologie, denn es gehört zu dem Objecte, das
sie verstehen will, auch nicht eines kann sie missen.“
Die Frage aber, ob und wie weit die akademische Lehre sich angesichts dieser en-
zyklopädischen Entgrenzung des Forschungsgebiets gleichwohl an den Interessen
und Bedürfnisse künftiger Gymnasiallehrer orientieren solle, hatte Wilamowitz in
derselben Rede brüsk zurückgewiesen:49
„Und wenn wir nun keine Schulamtscandidaten mehr unter unseren Zuhörern
haben sollten - ja, Schulamtscandidaten kennen wir auch jetzt nicht darunter: wir
kennen nur Studierende der Philologie ... Ob die Schule an der Philologie hängt, ist
die Frage, die ich nicht erörtere: dass die Philologie nicht an der Schule hängt, steht
doch wol äusser Frage.“
Aus dieser Selbstpositionierung der wilhelminischen Philologie resultierte eine
potentiell dysfunktionale Spannung zwischen der immer weiter ausgreifenden,
immer detaillierteren fachwissenschaftlichen Forschung (und damit auch jeder
forschungsnahen Lehre) einerseits und der vom Schulunterricht in den alten
Sprachen erwarteten Humanitätsbildung andererseits, über die ihre Stellung im
gymnasialen Unterricht doch einzig legitimiert werden kann.50 Vor diesem Hin-
tergrund ist nun das Gespräch mit Paul Maas zu sehen, welches Dihle 1948 in Ox-
ford anlässlich seines Abschiedsbesuchs bei ihm führen konnte.51 Zunächst ging
es um Dihles bereits erwähntes Habilitationsvorhaben zur byzantinischen Metrik
und damit um ein wahrhaft entlegenes Spezialgebiet, auf dem Maas damals als
48 Wilamowitz 1892, 15-16.
49 Wilamowitz 1892, 14.
50 Für dieses Problem hat Harald Patzer im Jahr von Dihles Englandreise die treffende Formel
„Der Humanismus als Methodenproblem der Klassischen Philologie“ gefunden; vgl. Patzer
1948.
51 Dihle 1994a, 29-30.
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nämlich die Ausbildung von Gymnasiallehrern der beiden alten Sprachen, zu be-
einträchtigen drohte. Hierzulande galt nämlich die Maxime der Einheit von Lehre
und Forschung, und die Forschung zu antiken Texten ist, angesichts ihrer in vielen
Fällen bis auf die Renaissance zurückreichenden Tradition, durch ein sehr hohes
Maß an Spezialisierung gekennzeichnet, und zudem, aufgrund des ungeheuren
Umfangs vor allem der griechischen Literatur des Altertums, durch ein sehr weites
Spektrum von Gegenständen, was seit dem 19. Jahrhundert mit einer dezidiert his-
torisierenden und damit distanzierenden Perspektive verbunden ist. In den Worten
der Göttinger Prorektoratsrede Ulrichs von Wilamowitz-Moellendorff:48
„Die Partikel äv und die Entclechic des Aristoteles, die heiligen Grotten Apollons
und der Götze Besas, das Lied der Sappho und die Predigt der heiligen Thekla, die
Metrik Pindars und der Messtisch von Pompeji, die Fratzen der Dipylonvasen und
die Thermen Caracallas, die Amtsbefugnisse der Schultheissen von Abdera und die
Thaten des göttlichen Augustus, die Kegelschnitte des Apollonios und die Astrologie
des Petosiris: alles, alles gehört zur Philologie, denn es gehört zu dem Objecte, das
sie verstehen will, auch nicht eines kann sie missen.“
Die Frage aber, ob und wie weit die akademische Lehre sich angesichts dieser en-
zyklopädischen Entgrenzung des Forschungsgebiets gleichwohl an den Interessen
und Bedürfnisse künftiger Gymnasiallehrer orientieren solle, hatte Wilamowitz in
derselben Rede brüsk zurückgewiesen:49
„Und wenn wir nun keine Schulamtscandidaten mehr unter unseren Zuhörern
haben sollten - ja, Schulamtscandidaten kennen wir auch jetzt nicht darunter: wir
kennen nur Studierende der Philologie ... Ob die Schule an der Philologie hängt, ist
die Frage, die ich nicht erörtere: dass die Philologie nicht an der Schule hängt, steht
doch wol äusser Frage.“
Aus dieser Selbstpositionierung der wilhelminischen Philologie resultierte eine
potentiell dysfunktionale Spannung zwischen der immer weiter ausgreifenden,
immer detaillierteren fachwissenschaftlichen Forschung (und damit auch jeder
forschungsnahen Lehre) einerseits und der vom Schulunterricht in den alten
Sprachen erwarteten Humanitätsbildung andererseits, über die ihre Stellung im
gymnasialen Unterricht doch einzig legitimiert werden kann.50 Vor diesem Hin-
tergrund ist nun das Gespräch mit Paul Maas zu sehen, welches Dihle 1948 in Ox-
ford anlässlich seines Abschiedsbesuchs bei ihm führen konnte.51 Zunächst ging
es um Dihles bereits erwähntes Habilitationsvorhaben zur byzantinischen Metrik
und damit um ein wahrhaft entlegenes Spezialgebiet, auf dem Maas damals als
48 Wilamowitz 1892, 15-16.
49 Wilamowitz 1892, 14.
50 Für dieses Problem hat Harald Patzer im Jahr von Dihles Englandreise die treffende Formel
„Der Humanismus als Methodenproblem der Klassischen Philologie“ gefunden; vgl. Patzer
1948.
51 Dihle 1994a, 29-30.
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