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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Primavesi, Oliver: Albrecht Dihle: (28. 3. 1923 − 29. 1. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0103
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Nachruf auf Albrecht Dihle

im Blick auf das eigene Seelenheil das Unrechtleiden dem Unrechttun in jedem
Falle vorzuziehen sei, und Jesus predigt das Gebot der Feindesliebe. Beide stellen
sich zu dem Grundsatz der Talion also sehr anders als es die menschenfreund-
liche Goldene Regel tut: Der gemeinsame Nenner der Sokratisch-Platonischen
Ethik und der Predigt Jesu liegt darin, dass beide den Vergeltungsgedanken nicht
etwa, im Sinne der Goldenen Regel, läutern, sondern ihn im Bereich der zwischen-
menschlichen Beziehungen radikal negieren, um ihn gänzlich auf das Schicksal der
menschlichen Seele im Jenseits zu beschränken. Bei Platon sind es die großen Jen-
seits- bzw. Seelenwanderungsmythen etwa des Gorgias oder der Politeia, in denen
die postmortale Belohnung bzw. Bestrafung der Seele bildkräftig gestaltet ist, und
in der Predigt Jesu steht das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe im Horizont
des kommenden Endgerichtes, bei dem jeder Mensch ganz und gar darauf ange-
wiesen sein wird, dass Gott ihm aus reiner Gnade seine übergroße Schuld erlässt,
eine Schuld, angesichts derer das Pochen des Menschen auf irgendeine innerwelt-
liche Vergeltung nur als Verblendung gewertet werden kann.
In der Bergpredigt Jesu nach Matthäus wird das Gebot der Feindesliebe kon-
trastierend vom traditionellen Grundsatz der Talion selbst abgesetzt,75 während die
Goldene Regel an späterer Stelle derselben Fassung der Predigt zustimmend als
Inbegriff des Gesetzes und der Propheten zitiert wird.76 Ganz anders steht es um
die Feldrede Jesu nach Lukas: In dieser Fassung der Predigt ist die Goldene Re-
gel mitten in den Zusammenhang des Gebotes der Feindesliebc hineinversetzt.77
Damit dürfte Lukas nun aber, wie Dihle gegen die communis opinio wahrschein-
lich gemacht hat, das revolutionäre Gebot der Feindesliebe der Goldenen Regel
selbst entgegensetzen, und nicht etwa, wie Matthäus, dem alten Talionsprinzip.
Wollte man die Regel nämlich auch bei Lukas als Anweisung nehmen, wie es ihrer
üblichen und bei Matthäus bewahrten Auffassung entspricht, dann würde sie in
dem von Lukas neu hergestellten Zusammenhang einen gänzlich unplausiblen,
geradezu antiklimaktischen Abschluss der vorangehenden, viel radikaleren Gebote
der Feindesliebe78 darstellen. Deshalb erscheint es als deutlich plausibler, die Regel
hier mit Dihle als Einleitung des Folgenden, mithin als indikativische Charakteri-
sierung des üblichen, berechnenden Verhaltens der Menschen aufzufassen.79 Die Darstel-
lung dieses Verhaltens leitet dann passend die anschließend mitgeteilten Beispiele

75 Mt. 5.38-48.
76 Mt. 7.12: Ilavra ovv öoa edv OeXrpe iva ttolcogiv vpiv oi dvOpccHOt, ovtok; Kat v|ieu; ttoieite
avrolQ oüroc; yap ecttiv ö vopoc; Kai oi npocpfjrai, wobei koleite selbstverständlich
als Imperativ zu nehmen ist: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut
auch ihnen! Das ist das Gesetz und die Propheten“.
77 Lc. 6.31.
78 Lc. 6.27-30 » Mt. 5.38-40.
79 Lc. 6.31: Kal KaOcbc; OeXete iva Ttonioiv vpiv oi ävOpamot hoieite aüroip öpoiax;, unter Deutung
von TtoiEiTE als Indikativ: „Und genau wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so pflegt
ihr auch ihnen zu tun“.

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