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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Primavesi, Oliver: Albrecht Dihle: (28. 3. 1923 − 29. 1. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0106
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B. Die Mitglieder

Literatur“ (zuerst 1957/58)95 des führenden Wiener Gräzisten Albin Lesky unter-
scheidet sich Dihles Werk dadurch, dass Forschungskontroversen nur in wichtige-
ren Fällen im Text kurz erwähnt werden, während weiterführende Angaben in der
Regel auf einen knappen bibliographischen Anhang beschränkt bleiben. Dihle ver-
mag mit seiner Literaturgeschichte auch Leser anzusprechen, die nicht selbst Grä-
zisten sind, und zwar deshalb, weil er seine souveräne Sachkenntnis dazu nutzt,
sich in den Überblicken wie in den punktuellen Vertiefungen auf ein plastisches,
unmittelbar aus den Quellen geschöpftes Bild zu beschränken. In einer eingehen-
den Rezension, die mit einem Dank an Dihle öffnet und schließt, hat gerade Albin
Lesky selbst den hohen Rang der „Griechischen Literaturgeschichte“ sehr deutlich
herausgestellt: „Treue in der Erfassung des Überlieferten ohne Spiel mit subjek-
tiven Einfällen, besonnene Wertung und klare Darstellung, wozu das sorgfältige
Eingehen auf die geschichtlichen und sozialen Gegebenheiten kommt.“96 Am
Schluss des Werkes stellt Dihle bereits den zweiten Teil seines literaturgeschichtli-
chen Lebenswerks in Aussicht: Eine Darstellung der griechischen und lateinischen
Literatur des zweisprachigen Imperium Romanum der Kaiserzeit, die dann zweiund-
zwanzig Jahre später erscheinen sollte.97
Vor allem auf einem Hauptgebiet der klassischen griechischen Literatur, dem
Homerischen Epos, ist Dihle auch mit einer eigenen Monographie hervorgetreten.
Darauf, dass gerade hier ein ernsthaftes Forschungsdesiderat vorlag, wurde Dihle
in der zweiten Hälfte der Sechziger jahre bei zwei Forschungsaufenthalten in den
USA aufmerksam: im Herbst und Winter 1965/66 an der Harvard-University und
im Frühjahr 1968 an der Stanford-University. Er konnte sich dort nämlich aus
erster Hand ein Bild von dem Paradigmenwechsel machen, den die Forschungen
von Milman Parry (1902—1935) zur Formelhaftigkeit des Homerischen Epos98
nach dem zweiten Weltkrieg in der US-amerikanischen Homerforschung herauf-
geführt hatten. Parry hatte in den Homerischen Epen am Beispiel der Kombi-
nationen von Eigennamen und epischen Beiwörtern ein System fester Formeln
nachgewiesen, das zwar einerseits metrisch (d. h. hinsichtlich der Abdeckung ver-
schiedener Ausschnitte des Hexameters) wie syntaktisch (d. h. hinsichtlich der Ab-
deckung verschiedener Kasus) extensiv, doch andererseits in dem Sinne ökonomisch
ist, dass die Koexistenz zweier verschiedener Formeln, die für ein und denselben
Eigennamen metrisch und syntaktisch dasselbe leisten, aufs Ganze gesehen ver-
mieden wird. Da ein in diesem Sinne ökonomisches Formelsystem in eindeutig
schriftlich konzipierter griechischer Epik, wie z. B. dem Argonautenepos des Apol-
lonios v. Rhodos, klarerweise nicht vorliegt, folgerte Parry, dass die Ökonomie des

95 Lesky 31971 ('1958)
96 Lesky 1968b, 411-412.
97 Dihle 1989.
98 Vgl. seine in Parry 1971 postum von seinem Sohn zusammengestellten Arbeiten.

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