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DIE LETZTEN STRASSBURGER JAHRE 1546-1549
Auch ein recht brüderlich uffsehen uff einander haben62, ein jeder seinen nechsten in
aller sanfftmüt der Sünden straffen und besseren, und das von einander gern und mit
aller danckbarkeit aufnemen, Niemand under sich dulden in der gemeinschafft Christi,
der mit einigem wissenden63 läster behafftet seie und sich darvon abzüstehn nit gentz-
lich begebe; Auch niemant, der onordenlich und im müssiggang leben wolte. Item das 5
sie sich auch alle miteinander der gemeinen zücht Christi und den geordneten Eiteren
und seelsorgeren64 darzü underwerffen, Ihr binden zur büs und sündbehalten nach
Gottes wort als Gottes binden und sündbehalten erkennen und halten an inen selb und
anderen, Wie auch das losen und sündverzeihen als Gottes losen und sündverzei-
hen65. Welche auch die kirchen Christi im wort des Herren nit wollen hören und 10
darumb von wegen ires gottlosen und verstockten lehren oder lebens halben gentzlich
verbannet werden als heiden und publican66, das ist: entfrembdet67 von aller gemein-
schafft Christi, meiden und fliehen. Doch das ihnen, so lang sie die Oberkeiten gedul-
den, kein dienst der ge- | B 3 b | meinen lieb, die wir auch den feinden schuldig sind,
entzogen und auch nichts an inen, damit man sie dem Herren gewinnen möchte, un- 15
derlassen werde68. Diß leset ir auch ja in allen schrifften Gottes und als in kurtzer, clarer
summen begriffen Math. 18 [15-20]; Johan. io[ii-i6], 13 [i-i7.34f.], i7[i-26]; Acto 2
[42-47] und 4 [3Z-35]; Rom. 12 [3-21]; 1. Cor. 5 [1-13]; 2. Cor. 12 [12-27] und 13
[1—13]; Ephes. 4 [1-16.20-32].
Nun so halten hiegegen69, was euch die Historien und erfarnüß zeugen von den 20
der Auswahl der Gebote, entspricht den Vorstellungen der Straßburger Prediger, die in diesen
Jahren mit dem Rat um eine Erneuerung der Kirche von innen her, auf dem Wege der Evolution
durch Gemeindekerne, ringen. Vgl. W. Bellardi, Die Geschichte, S. ioff. 38 ff., sowie Anm. 68.
62. Das Achtgeben aufeinander ist die erste Stufe brüderlicher Zuchtübung, die noch ganz im
privaten Bereich liegt, aber von B. im Sinne seiner seelsorgerlich bestimmten Kirchenzucht als
grundlegend angesehen wird. Das Ziel ist die Entstehung eines laizistischen Konfessionariats.
63. öffentlich bekannt seienden, auch: bewußten, bewußt gewordenen oder bewußt gemachten
(vgl. Anm. 62). Götze, S. 231.
64. Das Nebeneinander von »geordneten« Ältesten und Seelsorgern ist nur äußerlich eine
Parallele: In Bonn gibt es keine »Kirchspielpfleger« wie in Straßburg. Aber auch dort macht B. in
diesen Jahren den Versuch, die vom Rat eingesetzten Kirchenpfleger durch von der Gemeinde
gewählte »Verordnete christlicher zücht«, d. h. Gemeinschaftsälteste zu ersetzen. B. hat für Bonn
sicher solche gewählte Gemeindeverordnete im Auge. Für eine derartige Gemeindeordnung gibt es
jedoch keine Anzeichen, jedenfalls schweigen die Quellen. Eine solche Ältestenordnung könnte eine
wichtige Quelle für die besonderen Formen der Kirchenverfassungen der »Kirchen unter dem
Kreuz« am Niederrhein sein. In Straßburg dagegen kennen wir nicht nur das Amt, sondern auch
Namen von Amtsträgem aus den Jahren 1547—1549 (»Verordnete christlicher zücht« — »die Eite-
sten« usw.). Freilich ist diese Institution eine innerkirchliche Episode geblieben. Vgl. W. Bellardi,
Die Geschichte, S. 22ff. 39. 49. 57 u. a. m. Aus der späteren Zeit S. 75 f. 87 und vor allem Beilage 2,
S. 165 ff.
65. Vgl. Mt 18,18; Jo 20,23.
66. Vgl. Mt 18,17.
67. Entzogen, ausgeschlossen. Vgl. »entvremden« bei Lexer 1, Sp. 565.
68. Der hier beschriebene »kleine Bann« hat seinem seelsorgerlichen Charakter entsprechend
nur innergemeindliche Bedeutung und Wirkung. So auch in anderen Schriften B.s (Mss.) aus diesen
Jahren.
69. So vergleicht damit.
DIE LETZTEN STRASSBURGER JAHRE 1546-1549
Auch ein recht brüderlich uffsehen uff einander haben62, ein jeder seinen nechsten in
aller sanfftmüt der Sünden straffen und besseren, und das von einander gern und mit
aller danckbarkeit aufnemen, Niemand under sich dulden in der gemeinschafft Christi,
der mit einigem wissenden63 läster behafftet seie und sich darvon abzüstehn nit gentz-
lich begebe; Auch niemant, der onordenlich und im müssiggang leben wolte. Item das 5
sie sich auch alle miteinander der gemeinen zücht Christi und den geordneten Eiteren
und seelsorgeren64 darzü underwerffen, Ihr binden zur büs und sündbehalten nach
Gottes wort als Gottes binden und sündbehalten erkennen und halten an inen selb und
anderen, Wie auch das losen und sündverzeihen als Gottes losen und sündverzei-
hen65. Welche auch die kirchen Christi im wort des Herren nit wollen hören und 10
darumb von wegen ires gottlosen und verstockten lehren oder lebens halben gentzlich
verbannet werden als heiden und publican66, das ist: entfrembdet67 von aller gemein-
schafft Christi, meiden und fliehen. Doch das ihnen, so lang sie die Oberkeiten gedul-
den, kein dienst der ge- | B 3 b | meinen lieb, die wir auch den feinden schuldig sind,
entzogen und auch nichts an inen, damit man sie dem Herren gewinnen möchte, un- 15
derlassen werde68. Diß leset ir auch ja in allen schrifften Gottes und als in kurtzer, clarer
summen begriffen Math. 18 [15-20]; Johan. io[ii-i6], 13 [i-i7.34f.], i7[i-26]; Acto 2
[42-47] und 4 [3Z-35]; Rom. 12 [3-21]; 1. Cor. 5 [1-13]; 2. Cor. 12 [12-27] und 13
[1—13]; Ephes. 4 [1-16.20-32].
Nun so halten hiegegen69, was euch die Historien und erfarnüß zeugen von den 20
der Auswahl der Gebote, entspricht den Vorstellungen der Straßburger Prediger, die in diesen
Jahren mit dem Rat um eine Erneuerung der Kirche von innen her, auf dem Wege der Evolution
durch Gemeindekerne, ringen. Vgl. W. Bellardi, Die Geschichte, S. ioff. 38 ff., sowie Anm. 68.
62. Das Achtgeben aufeinander ist die erste Stufe brüderlicher Zuchtübung, die noch ganz im
privaten Bereich liegt, aber von B. im Sinne seiner seelsorgerlich bestimmten Kirchenzucht als
grundlegend angesehen wird. Das Ziel ist die Entstehung eines laizistischen Konfessionariats.
63. öffentlich bekannt seienden, auch: bewußten, bewußt gewordenen oder bewußt gemachten
(vgl. Anm. 62). Götze, S. 231.
64. Das Nebeneinander von »geordneten« Ältesten und Seelsorgern ist nur äußerlich eine
Parallele: In Bonn gibt es keine »Kirchspielpfleger« wie in Straßburg. Aber auch dort macht B. in
diesen Jahren den Versuch, die vom Rat eingesetzten Kirchenpfleger durch von der Gemeinde
gewählte »Verordnete christlicher zücht«, d. h. Gemeinschaftsälteste zu ersetzen. B. hat für Bonn
sicher solche gewählte Gemeindeverordnete im Auge. Für eine derartige Gemeindeordnung gibt es
jedoch keine Anzeichen, jedenfalls schweigen die Quellen. Eine solche Ältestenordnung könnte eine
wichtige Quelle für die besonderen Formen der Kirchenverfassungen der »Kirchen unter dem
Kreuz« am Niederrhein sein. In Straßburg dagegen kennen wir nicht nur das Amt, sondern auch
Namen von Amtsträgem aus den Jahren 1547—1549 (»Verordnete christlicher zücht« — »die Eite-
sten« usw.). Freilich ist diese Institution eine innerkirchliche Episode geblieben. Vgl. W. Bellardi,
Die Geschichte, S. 22ff. 39. 49. 57 u. a. m. Aus der späteren Zeit S. 75 f. 87 und vor allem Beilage 2,
S. 165 ff.
65. Vgl. Mt 18,18; Jo 20,23.
66. Vgl. Mt 18,17.
67. Entzogen, ausgeschlossen. Vgl. »entvremden« bei Lexer 1, Sp. 565.
68. Der hier beschriebene »kleine Bann« hat seinem seelsorgerlichen Charakter entsprechend
nur innergemeindliche Bedeutung und Wirkung. So auch in anderen Schriften B.s (Mss.) aus diesen
Jahren.
69. So vergleicht damit.