Andreas Kemmerling
137
Antrittsrede von Herrn ANDREAS kemmerling
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 21. Januar 2012.
Geboren wurde ich 1950 in einer kleinen Stadt im
Speckgürtel von Frankfurt. Die Kindheit, so scheint es
mir heute, war ein einziger Traum. Meine Erinnerun-
gen an diese Zeit zeigen mir die Eltern in Aufbruchs-
stimmung und Zuversicht, mit Arbeitsfreude und der
Gabe, sich bei passender Gelegenheit herzhaft des
Lebens zu freuen. Es ging bei uns recht katholisch zu,
aber es war auszuhalten. Meine Geschwister, alle drei
deutlich älter (echte ‘Kriegskinder’, die noch Hunger
erlebt hatten), haben mich mit erzogen.Teils liebevoll,
teils streng — aber nicht streng genug, wie mir später
gelegentlich nachgesagt wurde. Mir war’s recht. Mein
Vater war damals ein aufstrebender Arzt, meine Mutter unterstützte ihn. Sie gaben
mir immer das Gefühl, ich werde meinen Weg schon selbst finden.
Es waren in fast jeder Hinsicht, die mir heute als wichtig erscheint, glückliche
Jahre, in denen ich mich durch meine Schulzeit tragen ließ. Als ein sich immer noch
grad so durchschummelnder Gymnasiast des humanistischen Zweigs. Man sagt, in
der Schule werden die geistigen Fundamente gelegt — in meinem Fall gehört zu
ihnen eine profunde Unkenntnis in jedem naturwissenschaftlichen Bereich.
Dank einem eher zufälligen Besuch unserer Provinzbühne, ich war wohl 15,
trat Samuel Beckett in mein vorher nicht vorhandenes intellektuelles Leben. Nach
dem ersten Akt von Warten auf Godot hatte ich eigentlich gehen wollen, blieb dann
aber. Eher aus einer Laune heraus. Das Stück gab mir zu denken; ich hatte nur keine
Ahnung, was genau. Vieles hat sich aus dem Sitzenbleiben an jenem Abend für mich
ergeben.
Während der letzten Schuljahre geriet ich nun — nicht nur durch die Lektüre
von Becketts Werken und der Sekundärliteratur, sondern auch durch den Latein-
und Griechischunterricht (Seneca und Platon) — unversehens in philosophische
Gefilde. Das führte rasch zu Adorno-Lektüre, dann aber auch zu der von Wittgen-
stein. Verstanden hab ich wiederum erst einmal rein gar nichts, was der Faszination
keinen Abbruch tat. Adorno habe ich dann noch in Vorlesungen und Seminaren
erlebt. Ihm verdanke ich meine Immunität gegen Hegelsche Dialektik und alles, was
ihr ähnlich ist. Das Interesse an Wittgensteins Philosophie und vielem, was ihr ähn-
lich ist, ist geblieben und gewachsen.
Als Student änderte sich mein Leben. Plötzlich war ich einer der Eifrigsten.
Das war allerdings keine große Kunst in diesen merkwürdigen Zeiten. Ich begann
mein Studium 1968. Und wurde, damals noch in Frankfurt, rasch ein 69er: politisch
links zwar, aber ohne jedes Zugeständnis in puncto bürgerliche Lebensform. In ihr
war ich von Anfang an watteweich eingebettet gewesen; sie wollte ich nicht missen.
Und musste das bis heute nicht tun.
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Antrittsrede von Herrn ANDREAS kemmerling
an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 21. Januar 2012.
Geboren wurde ich 1950 in einer kleinen Stadt im
Speckgürtel von Frankfurt. Die Kindheit, so scheint es
mir heute, war ein einziger Traum. Meine Erinnerun-
gen an diese Zeit zeigen mir die Eltern in Aufbruchs-
stimmung und Zuversicht, mit Arbeitsfreude und der
Gabe, sich bei passender Gelegenheit herzhaft des
Lebens zu freuen. Es ging bei uns recht katholisch zu,
aber es war auszuhalten. Meine Geschwister, alle drei
deutlich älter (echte ‘Kriegskinder’, die noch Hunger
erlebt hatten), haben mich mit erzogen.Teils liebevoll,
teils streng — aber nicht streng genug, wie mir später
gelegentlich nachgesagt wurde. Mir war’s recht. Mein
Vater war damals ein aufstrebender Arzt, meine Mutter unterstützte ihn. Sie gaben
mir immer das Gefühl, ich werde meinen Weg schon selbst finden.
Es waren in fast jeder Hinsicht, die mir heute als wichtig erscheint, glückliche
Jahre, in denen ich mich durch meine Schulzeit tragen ließ. Als ein sich immer noch
grad so durchschummelnder Gymnasiast des humanistischen Zweigs. Man sagt, in
der Schule werden die geistigen Fundamente gelegt — in meinem Fall gehört zu
ihnen eine profunde Unkenntnis in jedem naturwissenschaftlichen Bereich.
Dank einem eher zufälligen Besuch unserer Provinzbühne, ich war wohl 15,
trat Samuel Beckett in mein vorher nicht vorhandenes intellektuelles Leben. Nach
dem ersten Akt von Warten auf Godot hatte ich eigentlich gehen wollen, blieb dann
aber. Eher aus einer Laune heraus. Das Stück gab mir zu denken; ich hatte nur keine
Ahnung, was genau. Vieles hat sich aus dem Sitzenbleiben an jenem Abend für mich
ergeben.
Während der letzten Schuljahre geriet ich nun — nicht nur durch die Lektüre
von Becketts Werken und der Sekundärliteratur, sondern auch durch den Latein-
und Griechischunterricht (Seneca und Platon) — unversehens in philosophische
Gefilde. Das führte rasch zu Adorno-Lektüre, dann aber auch zu der von Wittgen-
stein. Verstanden hab ich wiederum erst einmal rein gar nichts, was der Faszination
keinen Abbruch tat. Adorno habe ich dann noch in Vorlesungen und Seminaren
erlebt. Ihm verdanke ich meine Immunität gegen Hegelsche Dialektik und alles, was
ihr ähnlich ist. Das Interesse an Wittgensteins Philosophie und vielem, was ihr ähn-
lich ist, ist geblieben und gewachsen.
Als Student änderte sich mein Leben. Plötzlich war ich einer der Eifrigsten.
Das war allerdings keine große Kunst in diesen merkwürdigen Zeiten. Ich begann
mein Studium 1968. Und wurde, damals noch in Frankfurt, rasch ein 69er: politisch
links zwar, aber ohne jedes Zugeständnis in puncto bürgerliche Lebensform. In ihr
war ich von Anfang an watteweich eingebettet gewesen; sie wollte ich nicht missen.
Und musste das bis heute nicht tun.