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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2016 — 2017

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A. Das akademische Jahr 2016
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II. Wissenschaftliche Vorträge
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Leonhard, Jörn: Der Erste Weltkrieg: Zur Tektonik von Erwartung und Erfahrung
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Erler, Michael: Interpretatio medicans: eine Methode der Textauslegung in der antiken Philosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.55652#0061
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Michael Erler

aber gelöst worden sind. Wo früher Kriege geführt wurden, werden heute Bürger-
kriege entfesselt. Ein Ende der Gewalt bedeutet das bis heute nicht.
Michael Erler
„Interpretatio medicans. Eine Methode der Textauslegung
in der antiken Philosophie"
Sitzung der Philosophisch-historischen Klasse am 28. Oktober 2016
Aktive Lektüre ist ein Merkmal antiken Umgangs mit Texten. Plutarch charakte-
risiert dieses Leseverhalten gut, wenn er Hörer und Leser als „Teilnehmer“ (koi-
noncn) und „Mitarbeiter“ (synergoi) am Gelesenen und Gehörten bezeichnet (Plut.
de aud. 45E). Leser werden angeregt, kritisch zu lesen und eine aktive Rolle beim
Rezipieren von Texten zu spielen, Autoren berücksichtigen diese Lesehaltung bei
der Gestaltung von Texten; Kommentare, Scholien und Interpretationen sind
die Erucht dieser Lektüreweise (D. Konstan), die auch bei der Interpretation von
form und Inhalt philosophischer Texte in Rechnung gestellt werden muss. Dies
ist besonders der Lall, wenn Texte im philosophischen Kontext dezidiert dazu die-
nen sollen, nicht nur argumentativ zu überzeugen, sondern geradezu seelsorge-
risch zu wirken. „Leer ist das Wort“ - oder ein Text, so darf man ergänzen - „eines
Philosophen, von dem kein Affekt eines Menschen geheilt wird“ (Epic. Lrg. 221
Us.), formuliert programmatisch Epikur und erklärt seine Philosophie zu einer
philosophia medicans, in der Texte und ihre Interpretation als Medizin der Selbst-
heilung dienen sollen, indem sie Orientierungshilfe im Diesseits geben. Auch im
Platonismus werden Platons Dialoge als Träger der Wahrheit verstanden, und ihre
Interpretation als entscheidende Hilfestellung für die von menschlicher Seele er-
strebte Rückkehr zu ihrem geistigen Ursprung angesehen. Interpretation wird in
diesem Kontext also zum Teil des „seelsorgerischen“ Programms.
Ein methodischer Zugriff im Rahmen dieser interpretatio medicans als eines
aktiven Umgangs mit philosophischen Texten wird terminologisch mit dem Aus-
druck aphormen labein oder „Aufgreifen von Hinweisen“ gekennzeichnet. Er wird
in den Texten selbst illustriert, bisweilen auch reflektiert, lässt sich einerseits bis in
die Spätantike in unterschiedlichen philosophischen Schulen - insbesondere im
Platonismus - verfolgen. Sein Ursprung ist offenbar in der frühen Rhetorik des
5. Jh.s v. Chr. zu erkennen. Die mit dem Begriff aphormen labein verbundene Art
„aktiver Lektüre“ verdient nicht nur Beachtung, weil sie besser verstehen hilft,
was interpretatio medicans in den verschiedenen Phasen des antiken Platonismus
meint. Er gibt auch dem bisweilen irritierenden Miteinander von texttreuer Aus-
legung und individueller Weiterentwicklung eigener Gedanken, der Verbindung
von Tradition und Innovation z. B. in platonischen Texten, und nicht zuletzt auch

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