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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2016 — 2017

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2016
DOI Kapitel:
II. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Erler, Michael: Interpretatio medicans: eine Methode der Textauslegung in der antiken Philosophie
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.55652#0063
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Michael Erler

bei der durch Porphyrios gewählten besonderen Aufwertung der politischen Tu-
gend in einer Sentenz (sent. 32) deutlich.
Die Verbindung von Texttreue und Weiterentwicklung als Leseverhalten
des Porphyrios gegenüber Plotin erhält vor dem Hintergrund unserer bisheri-
gen Beobachtungen über die Methode des aphormen labein Profil. Die griechi-
sche Bezeichnung aphorme für Porphyrios, Werk ist offenbar mehr als nur Titel,
sondern erweist sich als Programm: Die sententiae stellen nicht einfach nur eine
Sammlung von Zitaten aus Plotin oder Porphyrios4 Lesefrüchten dar. Es handelt
sich vielmehr um zu sententiae geronnenen, bisweilen weiterführenden und ei-
genständigen Überlegungen des Porphyrios anlässlich von Stellen im Werk Plo-
tins. Die sententiae lassen sich als literarisch gewordene Produkte jener aktiven
Lesehaltung erklären, der es um die Selbstheilung des Lesers Porphyrios, dann
aber auch um ein Heilungsangebot für andere Leser geht. Die sententiae sollen
dem Rezipienten helfen, durch Reflexion über Plotin oder durch Repetition der
von Porphyrios durchgeführten Reflexionen die Aufmerksamkeit der eigenen
Seele auf das Jenseits zu lenken, und erfüllen auf diese Weise eine geradezu sote-
riologische Funktion. Es lohnt sich, auch in anderen Texten des kaiserzeitlichen
Platonismus, wie z. B. den Schriften des Plutarch, des Plotin, des Proklos oder
anderer Autoren, in denen es um die Auseinandersetzung mit anderen Texten
(z. B. Platons Dialogen) geht, das Nebeneinander von Eigenem und Orthodo-
xem unter dem Gesichtspunkt der hier vorgestellten Methode zu untersuchen.
Auch wenn im Zusammenhang nicht immer das Wort aphorme fällt, so kann es
sich als hilfreich erweisen, bei der Diskussion über das Verhältnis von Eigenem
und Übernommenen, von Orthodoxem und Innovativem, das Leseverhalten in
Rechnung zu stellen, das mit der Bezeichnung aphormen labein gekennzeichnet
ist. Die aphorme-Methode erlaubt einen kleinen Einblick in die Bemühungen
der Platoniker, durch Anbindung an Grundtexte des Platonismus eine Legiti-
mierung eigener Ausführungen zu gewinnen und auf diese Weise den Eindruck
inhaltlicher Kohärenz, von concordia und Orthodoxie innerhalb der platonischen
Tradition zu erwecken. Die Methode spielt aber auch eine Rolle bei den Streit-
fällen, die im Platonismus über die richtige Auslegung bestimmter Stellen in
Platons CEuvre ausgetragen wurden und welche die platonische Tradition zu ei-
ner concordia discors machen, wobei discordia auf der Ebene der Lesefrüchte aus-
getragen wird. Diese verselbstständigen sich bisweilen gleichsam und werden
sozusagen zu „geflügelten Argumenten“, die in unterschiedlichen Kontexten
zu unterschiedlichen Zwecken eingesetzt werden. Es lohnt sich, die aphormai-
Leseweise und ihre Produkte nicht nur selbst mit Blick auf Anlass und Herkunft
zu betrachten, sondern auch die Geschichte der Produkte dieser Leseweise in
ihrer Funktion als „geflügelte Argumente“ im Kontext der innerplatonischen
Streitkultur zu verfolgen. Denn sie tragen nicht zuletzt zur Lebendigkeit und
Aktualität der platonischen Tradition nicht nur in der Antike bei. Jedenfalls kann

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