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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2016 — 2017

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C. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
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https://doi.org/10.11588/diglit.55652#0255
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C. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses

kaum zu überbrückende Gegensätze. Epistemologisch hilfreich erscheinen mir in
diesem Zusammenhang mittelalterliche Frömmigkeitspraktiken, die ich im Fol-
genden als retardierendes Moment der Projektarbeit kurz vorstellen möchte.
Der Zusammenhang von Zählen und Frömmigkeit lässt sich am Beispiel der
christlichen Bußpraxis des Mittelalters eindrücklich fassen, wie er schon in den 90er
Jahren von Arnold Angenendt und anderen erforscht wurde.1 Schon im Frühmit-
telalter legten Bußbücher mit erstaunlicher Präzision fest, welche Sühne für welche
Sünde notwendig war, wobei einerseits nach der Schwere der Sünde, andererseits
nach dem Stand des Sünders unterschieden wurde. Wer sich als Kleriker trotz Ge-
lübde betrank, sollte nach dem Paenitentiale Cnmmeani (8. Jhd.) 40 Tage fasten, Laien
dagegen nur eine Woche. Es entstand ein fein ausjustiertes Tarifsystem, das sogar
Umrechnungen ermöglichte. Das Paenitentiale Remense (8. Jhd.) etwa legte fest,
dass ein Tag Fasten durch das Beten von 70 Psalmen ausgeglichen werden konnte
(oder 50 Psalmen, wenn man gleichzeitig Kniebeugen machte). Für eine Woche
Fasten wurden dagegen als Äquivalent 420 Psalmen festgelegt (oder 300 Psalmen
mit Kniebeugen), ein Monat Fasten bedurfte als Ersatz L680 Psalme bzw. E200
mit gleichzeitiger körperlicher Betätigung.2 Buße und Heil wurden zunehmend
zählbar, was auch die enorme Zahl von gestifteten Messen erklärt, die dann auch
architektonisch ihren Niederschlag fanden. Hochmittelalterliche Kirchen, wie etwa
die heute nicht erhaltene Abteikirche des Benediktinerklosters Cluny waren umge-
ben von einem Kranz kleinerer Kapellen mit Seitenaltären, an denen Priester oder
Mönche zeitgleich Messen lesen konnten. Im Spätmittelalter führte diese Praxis
zumindest bei einigen Theologen sogar zu der Auffassung, eine Messe sei beson-
ders dann wirksam für das Seelenheil, wenn möglichst wenige Menschen daran
teilnähmen.3 Als Werk der Gnadenvermittlung wurde die Messe quantifizierbar,
Angenendt et al. sprechen sogar von einer sich ausbildenden „Heilsarithmetik“4.
Es fällt mitunter leichter, über derartige Praktiken zu lächeln, als sie aus ih-
rer eigenen Zeit heraus zu erklären. Dass Frömmigkeit zu einer „Rechenkunst“5
geworden war, änderte nichts an ihrem religiösen Charakter (auch wenn sich na-
türlich schon zeitgenössische Kritiker fanden)6. So halfen die im Spätmittelalter
massenhaft verbreiteten Gebetszählschnüre dem Gläubigen dabei, die Menge
seiner Gebete zu überprüfen (Abb. 1) - die Praktik des spezifische Formeln wie-

1 Zu nennen wäre hier vor allem der Beitrag von Arnold Angenendt et al., Gezählte Frömmig-
keit, in: Frühmittelalterliche Studien 29, 1995, S. 1-71, auf den sich die folgenden Ausführun-
gen maßgeblich stützen.
2 Zu den Bußbüchern vgl. ebd., S. 13 und 19.
3 Dazu ebd. S, 47.
4 Ebd. S. 40.
5 Ebd. S. 44.
6 Zur zeitgenössischen Kritik siehe ebd. S. 57-62.

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