Nachruf auf Bernhard Hassenstein
begann Hassenstein in der Tradition Otto Köhlers (und Konrad Lorenz) stehend
mit Arbeiten zur Verhaltensbiologie an Primaten und des Menschen. Er publi-
zierte über Formen der menschlichen Aggression, und er veröffentlichte 1973 ein
wegweisendes Buch zur frühkindlichen Entwicklung „Die Verhaltensbiologie des
Kindes“, das zuletzt 2007 in sechster Auflage erschienen ist4. Hier charakterisierte
er die frühkindliche Entwicklung im Kontext anderer Primaten und Säugetiere.
Für Hassenstein ist das Besondere an der menschlichen Frühentwicklung, dass sie
nicht nur durch eine lange Stillzeit des Säuglings charakterisiert ist, sondern vor al-
lem auch durch eine lange Tragezeit des Kleinkinds. Hier kommt eine biologische
Besonderheit des menschlichen Säuglings zur Geltung: er ist nicht für das Ruhen
auf waagerechter Unterlage disponiert, sondern für das Getragenwerden, was auch
durch anatomische und angeborene Verhaltensreaktionen unterstützt wird. Has-
senstein prägte den Begriff „Tragling“ für diese frühkindliche Entwicklungsphase,
die so nur dem Menschen eigen ist. Dieser Grundgedanke wurde auch durch Has-
sensteins evolutions- und verhaltensbiologische Sicht des Menschen geprägt und
hat ihn auch mit den Zoologen der Wiener Schule (Konrad Lorenz, Rupert Riedl)
zusammengebracht. Für Hassenstein bedingt diese besondere Mutter-Kind-Be-
ziehung viele Störungen der frühkindlichen Entwicklung, wenn dieses Grundbe-
dürfnis nach Körpernähe und Bewegung nicht erfüllt ist.
In Freiburg war Hassenstein ein Pionier für eine moderne Biologieausbil-
dung. Zusammen mit Hans Mohr begründete er ein reformiertes Biologiestu-
dium mit der Betonung der physikalischen, chemischen und auch historischen
Grundlagen des Fachs sowie einer strukturellen Vereinheitlichung der beiden Teil-
fächer der Biologie, der Botanik und der Zoologie (zwischen denen es an vielen
Standorten immer wieder zu unguten Rivalitäten kam)1. Zusammen mit Hans
Mohr etablierte er den ersten entwicklungsbiologischen Sonderforschungsbereich
der DFG (SFB 46, 1968-1982). Bernhard Hassenstein war auch ein herausragen-
der akademischer Lehrer: seine Vorlesungen zu den Prinzipien der vergleichen-
den Anatomie bei Geoffroy Saint Hilaire, Georges Cuvier und Johann Wolfgang
Goethe waren Höhepunkte zoologischer Lehre. Von 1967 bis 1970 war Bernhard
Hassenstein im Wissenschaftsrat und machte dort u. a. als Leiter der Wissen-
schaftsratskommission zur Lehrerbildung sehr gemischte Erfahrung in politischen
Entscheidungsprozessen. Von 1974 bis 1981 leitete er die Kommission „Anwalt des
Kindes“ des Kultusministeriums Baden-Württemberg. 1984 ging Bernhard Has-
senstein in den Ruhestand.
In die Heidelberger Akademie der Wissenschaften wurde Bernhard Has-
senstein 1961 gewählt, 1965 folgte die Aufnahme in die Deutsche Akademie der
Naturforscher Leopoldina. Er war Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für
4 Flassenstein, B. (1973). Verhaltensbiologie des Kindes. S. 1-459, Piper Verlag München/
Zürich.
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begann Hassenstein in der Tradition Otto Köhlers (und Konrad Lorenz) stehend
mit Arbeiten zur Verhaltensbiologie an Primaten und des Menschen. Er publi-
zierte über Formen der menschlichen Aggression, und er veröffentlichte 1973 ein
wegweisendes Buch zur frühkindlichen Entwicklung „Die Verhaltensbiologie des
Kindes“, das zuletzt 2007 in sechster Auflage erschienen ist4. Hier charakterisierte
er die frühkindliche Entwicklung im Kontext anderer Primaten und Säugetiere.
Für Hassenstein ist das Besondere an der menschlichen Frühentwicklung, dass sie
nicht nur durch eine lange Stillzeit des Säuglings charakterisiert ist, sondern vor al-
lem auch durch eine lange Tragezeit des Kleinkinds. Hier kommt eine biologische
Besonderheit des menschlichen Säuglings zur Geltung: er ist nicht für das Ruhen
auf waagerechter Unterlage disponiert, sondern für das Getragenwerden, was auch
durch anatomische und angeborene Verhaltensreaktionen unterstützt wird. Has-
senstein prägte den Begriff „Tragling“ für diese frühkindliche Entwicklungsphase,
die so nur dem Menschen eigen ist. Dieser Grundgedanke wurde auch durch Has-
sensteins evolutions- und verhaltensbiologische Sicht des Menschen geprägt und
hat ihn auch mit den Zoologen der Wiener Schule (Konrad Lorenz, Rupert Riedl)
zusammengebracht. Für Hassenstein bedingt diese besondere Mutter-Kind-Be-
ziehung viele Störungen der frühkindlichen Entwicklung, wenn dieses Grundbe-
dürfnis nach Körpernähe und Bewegung nicht erfüllt ist.
In Freiburg war Hassenstein ein Pionier für eine moderne Biologieausbil-
dung. Zusammen mit Hans Mohr begründete er ein reformiertes Biologiestu-
dium mit der Betonung der physikalischen, chemischen und auch historischen
Grundlagen des Fachs sowie einer strukturellen Vereinheitlichung der beiden Teil-
fächer der Biologie, der Botanik und der Zoologie (zwischen denen es an vielen
Standorten immer wieder zu unguten Rivalitäten kam)1. Zusammen mit Hans
Mohr etablierte er den ersten entwicklungsbiologischen Sonderforschungsbereich
der DFG (SFB 46, 1968-1982). Bernhard Hassenstein war auch ein herausragen-
der akademischer Lehrer: seine Vorlesungen zu den Prinzipien der vergleichen-
den Anatomie bei Geoffroy Saint Hilaire, Georges Cuvier und Johann Wolfgang
Goethe waren Höhepunkte zoologischer Lehre. Von 1967 bis 1970 war Bernhard
Hassenstein im Wissenschaftsrat und machte dort u. a. als Leiter der Wissen-
schaftsratskommission zur Lehrerbildung sehr gemischte Erfahrung in politischen
Entscheidungsprozessen. Von 1974 bis 1981 leitete er die Kommission „Anwalt des
Kindes“ des Kultusministeriums Baden-Württemberg. 1984 ging Bernhard Has-
senstein in den Ruhestand.
In die Heidelberger Akademie der Wissenschaften wurde Bernhard Has-
senstein 1961 gewählt, 1965 folgte die Aufnahme in die Deutsche Akademie der
Naturforscher Leopoldina. Er war Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für
4 Flassenstein, B. (1973). Verhaltensbiologie des Kindes. S. 1-459, Piper Verlag München/
Zürich.
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