Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

DOI chapter:
A. Das akademische Jahr 2020
DOI chapter:
I. Wissenschaftliche Vorträge
DOI article:
Maienborn, Claudia: Von katholischen Kirchenoberhäuptern, ambulanten Versorgungsaufträgen und vierstöckigen Hausbesitzern: Auflösung eines grammatischen Trugbildes: Gesamtsitzung am 18. Juli 2020
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0038
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
I. Wissenschaftliche Vorträge

Tauchgänge in den konzeptuellen Unterbau allerdings zu einem sehr hohen
Preis, indem nämlich in die kompositionale Maschinerie selbst eingegriffen wird
und diese deutlich komplizierter wird, ohne dass es für diesen Schritt unabhän-
gige Evidenz gäbe. Zweitens ist die vorgeschlagene Lösung viel zu mächtig, denn
sie kann die offensichtlichen kombinatorischen Beschränkungen nicht erfassen. In
der Tat erlaubt sie es, alle absurden Scherzbildungen, vor denen uns die Sprachkri-
tik warnt, als kompositional völlig reguläre Kombinationen abzubilden. Im Falle
des Ausdrucks vierstöckiger Hausbesitzer könnte das Adjektiv also ganz regulär an den
Nicht-Kopf andocken. Die Theorie macht damit die falsche Vorhersage, dass dies
ein korrekter Ausdruck des Deutschen ist.
Deshalb kommt hier als dritter Anlauf zum Umgang mit Klammerparadoxie
mein Vorschlag: Auflösen! Es gibt sie nicht. Was aussieht wie ein Auseinanderdrif-
ten zwischen Morphosyntax und Semantik, ist es gar nicht. Die Kombination von
Adjektiv und NN-Kompositum erfolgt in allen Fällen strikt kompositional. Der
vermeintliche Nicht-Kopf-Bezug des Adjektivs entpuppt sich als kombinatorische
Illusion. Klammerparadoxien - so meine These - sind ein grammatisches Trug-
bild, das entsteht durch die Überblendung kompositionaler und pragmatischer
Prozesse.
Den Ansatzpunkt für meinen Vorschlag bietet eine genauere Betrachtung der
involvierten Adjektive. Es sind nämlich (fast) ausschließlich relationale Adjektive -
Adjektive wie deutsch, katholisch, atomar, ambulant, chemisch -, bei denen es zu einem
vermeintlichem Nicht-Kopf-Bezug kommt. Relationale Adjektive drücken eine
Relation zu dem von ihrer in der Regel nominalen Basis bezeichneten Konzept
aus. Ein relationales Adjektiv wie chemisch etwa stellt eine Relation zur Chemie
her, schulisch stellt eine Verbindung zur Schule her, preußisch zum Land Preußen
usw. Diese Relation ist semantisch unterbestimmt. Der Ausdruck preußische Rüb-
chen beispielsweise bezeichnet Rübchen, die irgendetwas mit Preußen zu tun ha-
ben. Sie mögen dort gewachsen sein, oder nach einem in Preußen entwickeltem
Rezept zubereitet sein, oder was auch immer. Die genaue Festlegung dieser Re-
lation obliegt der Pragmatik. Das heißt, relationale Adjektive beinhalten eine un-
terbestimmte Relation R, die sie im Zuge der Komposition auf ihr Bezugsnomen
übertragen. Hier endet der Beitrag der Komposition. Diese unterbestimmte Re-
lation R muss im konzeptuellen Unterbau des Nomens verankert werden. Hier
übernimmt die Pragmatik. Sie kann für diese Aufgabe auf unser reichhaltiges und
vielfach vernetztes begriffliches Wissen - unser Weltwissen - zurückgreifen. Dabei
eröffnen sich im Prinzip viele Möglichkeiten, die unterbestimmte Relation festzu-
legen. Die konkrete Auswahl wird durch zwei sehr allgemeine kognitive Prinzipi-
en bestimmt. Erstens: Das Ergebnis der konzeptuellen Verankerung von R muss
zu einem kohärenten Konzept führen. Es darf - bildlich gesprochen — den Eisberg
nicht „zerbröseln“. Dies ist in (8) als Kohärenzprinzip formuliert; s. Olsen (2004),
Bücking (2009).

38
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften