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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

DOI Kapitel:
A. Das akademische Jahr 2020
DOI Kapitel:
I. Wissenschaftliche Vorträge
DOI Artikel:
Maienborn, Claudia: Von katholischen Kirchenoberhäuptern, ambulanten Versorgungsaufträgen und vierstöckigen Hausbesitzern: Auflösung eines grammatischen Trugbildes: Gesamtsitzung am 18. Juli 2020
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0040
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I. Wissenschaftliche Vorträge

stimmten Relation optimal erfüllt werden. Was ist mit dem vierstöckigen Hausbesitzer
und den übrigen unbedingt als nicht wohlgeformt auszuschließenden Zerrbeispie-
len in (6)? Mein Beharren auf Kompositionalität im strengsten Sinne (ohne Eingrif-
fe in die kompositionale Maschinerie) bietet eine unmittelbare Erklärung, warum
die von der Sprachkritik so gerne warnend bemühten Scherzbildungen tatsächlich
ausgeschlossen sind. Hierbei handelt es sich nämlich durchweg nicht um relationa-
le, sondern um qualitative Adjektive. Diese Adjektive führen keine unterbestimmte
Relation R ein, die pragmatisch verankert werden müsste, sondern sie steuern eine
Eigenschaft bei, die sie über ihr Bezugsnomen prädizieren. Das Adjektiv vierstö-
ckig etwa weist seinem Bczugsargument die Eigenschaft zu, aus vier Stockwerken
zu bestehen. Dieses Prädikat kann aber nur auf Artefaktbezeichnungen angewandt
werden (sprich: auf Ausdrücke für Gebäude, Vehikel, Torten, Etageren, usw), nicht
auf ein Nomen wie Hausbesitzer. Das Kompositum erfüllt nicht die semantischen
Typanforderungen des Adjektivs. Dies hat nichts mit Kopf- oder Nicht-Kopf-Be-
zug bei Komposita zu tun, sondern es geht schlicht um semantische Verträglichkeit
als Voraussetzung für die Anwendung eines Prädikats auf sein Argument. Der Aus-
druck vierstöckiger Hausbesitzer ist aus dem gleichen Grund semantisch abweichend
wie vierstöckiger Hund oder unser Eingangsbeispiel fleißiger Bienenhonig. (Zu einer
kleinen Gruppe von verbleibenden Klammerparadoxie-Kandidaten mit qualitati-
ven Adjektiven wie morsche Holzverschalung, dunkler Lederbezug, gehobene Preisklasse,
leckerer Salatteller verweise ich auf die hierzu formulierten Beobachtungen von Berg-
mann (1980) und meine Analyse in Maienborn (2020a)).
Bleibt schließlich die Frage nach der reduzierten Akzeptabilität von Fällen
wie ambulanter Versorgungsauftrag, die häufig nicht ganz so klaglos akzeptiert wer-
den. Was ist hier das Problem? Die kompositionale Semantik ergibt hier: „Verein-
barung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer über die Bereitstellung von
Gütern, die in einer unterbestimmten Verbindung R zu einer nicht-stationären
Dienstleistung steht“. Dafür drängt sich als vorbildlich sparsame pragmatische
Verankerung auf: „Vereinbarung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer
über die nicht-stationäre Bereitstellung von Gütern“. Die Vorgaben des Öko-
nomieprinzips sind also optimal erfüllt. Besser geht’s nicht! Was ist dann das
Problem? Warum wird der Ausdruck als problematisch eingestuft? Meine These
ist, dass er die Auflagen des Kohärenzprinzips nicht optimal erfüllt. Es bildet sich
kein hinreichend stabiles Konzept heraus. Zu viele der im sprachlichen Aus-
gangsmaterial angelegten Argumentpositionen bleiben offen. Wir erfahren bei
ambulanter Versorgungsauftrag nichts über Auftraggeber und Auftragnehmer; wir
wissen nichts Näheres über Versorger und Versorgte; und vor allem erhalten
wir keine Information über die Art der Güter, um die es geht. Der konzeptuelle
Unterbau ist also recht löchrig und porös, und damit droht unser Eisberg zu kol-
labieren. Er kann seiner Konzeptbenennungsfunktion nicht mehr ohne weiteres
gerecht werden.

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