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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2020 — 2021

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B. Die Mitglieder
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II. Nachrufe
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Primavesi, Oliver: Albrecht Dihle: (28. 3. 1923 − 29. 1. 2020)
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https://doi.org/10.11588/diglit.61621#0101
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Nachruf auf Albrecht Dihle

formierten und erschlossenen Textcorpus, welches Platons Apologie ebenso umfasst
wie Plutarchs Viten, schärft den Blick dafür, dass man einen Lebenslauf als ganzen
- auch den eigenen - als eine Bewährungsprobe verstehen kann, und zwar als eine
wahrscheinlich einmalige Bewährungsprobe.
Im Sommer 1957 wurde Dihle durch ein Konzert des Sitar-Virtuosen Ravi
Shankar in Göttingen auf die indische Kultur aufmerksam und fasste ein so starkes
Interesse an ihr, dass er im Herbst desselben Jahres an einer etwa dreimonatigen
Studienreise durch Indien teilnahm, die von der 1953 in Stuttgart gegründeten
Deutsch-Indischen Gesellschaft gemeinsam mit dem Reisebüro Marco Polo or-
ganisiert wurde und die angesichts der damaligen Reiseverhältnisse in Asien ein
regelrechtes Abenteuer darstellte.65 Noch bis ins hohe Alter hat Dihle oft von die-
ser Reise und den dort empfangenen Eindrücken gesprochen, und der Horizont,
in dem er die Kulturen der Alten Welt sah, hat sich dadurch bis an die Grenzen
der Eroberungszüge Alexanders des Großen und darüber hinaus erweitert. Ein
Großteil der in den Band „Antike und Orient“66 aufgenommenen Aufsätze und
vor allem sein umfassender Artikel „Indien“ für das „Reallexikon für Antike und
Christentum“ legen davon Zeugnis ab.67
Im Jahre 1958 wurde Dihle im Alter von fünfunddreißig Jahren als Nachfol-
ger von Josef Kroll (1889-1980) auf den gräzistischen Lehrstuhl der Universität
zu Köln berufen, den er bis zum Jahre 1974 bekleidet hat. Für seine Familie, zu
der mittlerweile schon vier Kinder zählten, konnte er damals in Köln-Marienburg,
einem südlich der Kölner Altstadt gelegenen Villenvorort, das geräumige Haus am
Schillingsrotter Platz erwerben, in dem er, mit Unterbrechung der Heidelberger
Jahre 1974—1989, bis zu seinem Tode gelebt hat. 1962 veröffentlichte er das Buch
„Die Goldene Regel“,68 das in die Populärethik (Dihle sagt: „Vulgärethik“, was
nicht pejorativ gemeint ist) der Griechen und Römer, des späthellenistischen Ju-
dentums und der frühen Christen einführt, und zwar anhand einer einzigen ethi-
schen Norm, eben der seit dem 16. Jahrhundert sogenannten „Goldenen Regel“,
deren reiche Überlieferung sich in eine negative und eine positive Fassung teilt:
(Negativ:) Füge dem Anderen nichts zu, was du selbst nicht angetan haben willst!
(Positiv:) Verhalte dich zum Anderen so, wie du es von ihm dir gegenüber erwar-
test!
Inhaltlich betrachtet baut diese Regel auf dem alten Rechtsgrundsatz der Vergel-
tung des Gleichen mit Gleichem (ü/s talionis") auf, wie er z. B. im mosaischen Ge-
bot „Bruch um Bruch, Auge um Auge, Zahn um Zahn“69 zum Ausdruck kommt

65 Vgl. Dihle, Ms.2.
66 Dihle 1984.
67 Dihle 1998.
68 Dihle 1962a.
69 3. Mose 24.17; vgl. 2. Mose 21.23-25.

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