Nachruf auf Albrecht Dihle
mündlichen Improvisation zum ersten Mal von der Schrift Gebrauch macht, um
ein Großepos zu komponieren und aufzuzeichnen.
Indessen treffen die Einwände Leskys und Kullmanns lediglich den Rahmen,
in den Dihle seinerzeit seine Beobachtungen eingefügt hat, nicht diese Beobach-
tungen selbst. Denn auch unter der Annahme, dass die Ilias im Ganzen aus der
erstmaligen Verwendung der Schrift für die Konzeption und Aufzeichnung eines
stofflich und sprachlich noch ganz der mündlich improvisierten Heldendichtung
verpflichteten Großepos hervorgegangen ist, bleibt Dihles Vorschlag plausibel, ins-
besondere solche Partien der Ilias, die kompetente analytische Homerforscher aus
inhaltlichen Gründen für spätere Einfügungen gehalten hatten, darauf zu prüfen,
ob nicht auch ihre Diktion weniger oder gar nicht der sonst in der Ilias nachzu-
weisenden mündlichen Formelhaftigkeit entspricht: Wie könnte man denn auch
vernünftigerweise bestreiten, dass der Prozess der Ent-Oralisierung der epischen
Diktion, die vom frühgriechischen Epos über die späteren homerischen Hymnen
bis zu Apollonios von Rhodos führt, in Etappen verlief? Damit aber ist die Möglich-
keit gegeben, dass im Laufe der langwierigen Herstellung unseres monumentalen
Ilias-Textes Nachträge aufgenommen wurden - sei es von anderer Hand, sei es
noch von dem Autor der ursprünglichen Aufzeichnung selbst —, in deren Diktion
die Bindung an den oralen Stil bereits gelockert ist. So hat der große Homer-Editor
Martin L. West in seinem Buch über die Abfassung der Ilias107 die Meinung vertre-
ten, dass die uns vorliegende Ilias im Wesentlichen von einem einzigen Meister der
mündlichen Improvisation schriftlich verfasst wurde, der seine erste Fassung dann
freilich sein ganzes weiteres Leben hindurch verbessert und erweitert habe; und
eben in diesem lebenslangen Überarbeitungsprozess erkennt West den wahren
Grund für viele - nach West zutreffende - Beobachtungen, die schichtenanalytisch
arbeitende Homerforscher gemacht und - nach West zu Unrecht - auf multiple
Autorschaft zurückgeführt hatten108. Eine dieser nachträglichen Einfügungen des
Dichters sieht West in der ersten der beiden von Dihle ins Feld geführten Par-
tien, der Überlistung des Zeus durch Here.109 So erscheint Dihles Homerbuch
aus heutiger Sicht als eine Pioniertat. Zwar hatte A. Lesky bereits in den fünf-
ziger Jahren das deutschsprachige Publikum mit seinem Aufsatz „Mündlichkeit
und Schriftlichkeit im Homerischen Epos“ kurz und nachdrücklich auf die Be-
deutung von Parrys Forschungen aufmerksam gemacht.110 Doch erst Dihle hat
die Amerikanische Oral-Poetry-Diskussion auf ihrem um die Mitte der sechziger
Jahre erreichten Stand in Beziehung zu Überlegungen der schichtenanalytischen
Homerforschung gesetzt, und sich damit erstmals gegen die verdächtig bequeme
107 West 2011.
108 West 2011, 3-5 und 10-14.
109 West 2011,291 zu Ilias 14(5), 153-362.
110 Lesky 1954.
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mündlichen Improvisation zum ersten Mal von der Schrift Gebrauch macht, um
ein Großepos zu komponieren und aufzuzeichnen.
Indessen treffen die Einwände Leskys und Kullmanns lediglich den Rahmen,
in den Dihle seinerzeit seine Beobachtungen eingefügt hat, nicht diese Beobach-
tungen selbst. Denn auch unter der Annahme, dass die Ilias im Ganzen aus der
erstmaligen Verwendung der Schrift für die Konzeption und Aufzeichnung eines
stofflich und sprachlich noch ganz der mündlich improvisierten Heldendichtung
verpflichteten Großepos hervorgegangen ist, bleibt Dihles Vorschlag plausibel, ins-
besondere solche Partien der Ilias, die kompetente analytische Homerforscher aus
inhaltlichen Gründen für spätere Einfügungen gehalten hatten, darauf zu prüfen,
ob nicht auch ihre Diktion weniger oder gar nicht der sonst in der Ilias nachzu-
weisenden mündlichen Formelhaftigkeit entspricht: Wie könnte man denn auch
vernünftigerweise bestreiten, dass der Prozess der Ent-Oralisierung der epischen
Diktion, die vom frühgriechischen Epos über die späteren homerischen Hymnen
bis zu Apollonios von Rhodos führt, in Etappen verlief? Damit aber ist die Möglich-
keit gegeben, dass im Laufe der langwierigen Herstellung unseres monumentalen
Ilias-Textes Nachträge aufgenommen wurden - sei es von anderer Hand, sei es
noch von dem Autor der ursprünglichen Aufzeichnung selbst —, in deren Diktion
die Bindung an den oralen Stil bereits gelockert ist. So hat der große Homer-Editor
Martin L. West in seinem Buch über die Abfassung der Ilias107 die Meinung vertre-
ten, dass die uns vorliegende Ilias im Wesentlichen von einem einzigen Meister der
mündlichen Improvisation schriftlich verfasst wurde, der seine erste Fassung dann
freilich sein ganzes weiteres Leben hindurch verbessert und erweitert habe; und
eben in diesem lebenslangen Überarbeitungsprozess erkennt West den wahren
Grund für viele - nach West zutreffende - Beobachtungen, die schichtenanalytisch
arbeitende Homerforscher gemacht und - nach West zu Unrecht - auf multiple
Autorschaft zurückgeführt hatten108. Eine dieser nachträglichen Einfügungen des
Dichters sieht West in der ersten der beiden von Dihle ins Feld geführten Par-
tien, der Überlistung des Zeus durch Here.109 So erscheint Dihles Homerbuch
aus heutiger Sicht als eine Pioniertat. Zwar hatte A. Lesky bereits in den fünf-
ziger Jahren das deutschsprachige Publikum mit seinem Aufsatz „Mündlichkeit
und Schriftlichkeit im Homerischen Epos“ kurz und nachdrücklich auf die Be-
deutung von Parrys Forschungen aufmerksam gemacht.110 Doch erst Dihle hat
die Amerikanische Oral-Poetry-Diskussion auf ihrem um die Mitte der sechziger
Jahre erreichten Stand in Beziehung zu Überlegungen der schichtenanalytischen
Homerforschung gesetzt, und sich damit erstmals gegen die verdächtig bequeme
107 West 2011.
108 West 2011, 3-5 und 10-14.
109 West 2011,291 zu Ilias 14(5), 153-362.
110 Lesky 1954.
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