Die Idee der Universität [1923]
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Die eine Wahrheit zersplittert in eine Fülle von Wahrheiten, deren bestimmte, beson-
dere und begrenzte Geltung dem Erkennenden bewußt wird. Es entsteht eine Welt
der Wissenschaften, gegliedert nach Methoden, nach Begründungsarten und Arten
der Geltung, nach Inhalten. Es gibt mathematische, empirische, spekulative Einsich-
ten, naturwissenschaftliche, psychologische, historische Erkenntnisse, formallogi- 12
sehe zwingende Gedankengänge, experimentelle Verifikationen, dialektische Gedan-
kenbewegungen und die unendliche Reflexion - und alle diese zeigen nebeneinander
höchst verschiedene Wege wissenschaftlicher Forschung. Immer wieder hat man eine
Art von wissenschaftlichen Erkenntnissen für die einzige wissenschaftliche Erkennt-
nis erklärt, die übrigen für Verirrungen oder für Verwechslungen mit Dichtungen oder
für primitive und provisorische Vertretungen für später zu gewinnende rechte wissen-
schaftliche Erkenntnisse haltend. So hat man die philosophisch-apriorische Einsicht
gegen die empirische und umgekehrt ausgespielt, hat alle Erkenntnis nach mathema-
tischer Methode gestalten wollen, pochte auf »naturwissenschaftliche« Erkenntnis
gegen alle produktiven Einsichten, die nicht auf experimentellen und statistischen
Methoden beruhen usw. Demgegenüber wird man ohne Verabsolutierung eines ein-
zelnen Weges Wissenschaft überall da sehen, wo Urteile in Zusammenhang mit An-
spruch auf Geltung vorgetragen werden, sofern sie auf Methode beruhen und disku-
tierbar sind. Innerhalb dieses weitesten Umkreises gibt es viele besondere Arten von
Wissenschaft, denen man auch sehr verschiedenen Wert, je nach dem Standpunkt,
zuschreiben wird. Der Erkennende wird aber bei all dieser Zerlegung immer als Erken-
nender den Drang haben, alle Arten von Erkenntnissen aufeinander zu beziehen, so
wenig das auch jeweils überall gelingt; nur wird das Ganze, solange das Erkennen frei
und bewegt bleibt, nicht durch Verabsolutierung einer Methode, einer Geltungsart,
einer Wissenschaftsart erzielt werden. Aufgabe einer Enzyklopädie der Wissenschaf-
ten20 ist es (nicht im Sinne einer Sammlung der Wissenschaften, sondern einer Ana-
lyse der Prinzipien), jeweils die Intention auf das Ganze, auf den Kosmos der Wissen-
schaften zu richten.
Das dogmatische Bewußtsein, als ob die absolute Wahrheit greifbar und in Besitz
wäre, wird durch die Kräfte der Skepsis zerstört. Die Wissenschaft nimmt die Skepsis
in sich auf, indem sie relativistisch wird, das heißt, alle ihre Erkenntnisse als für Er-
kenntnisse, die auf einem Standpunkt, in gewissen Beziehungen gültig sind, zu erfas-
sen lernt, sie nicht mehr für Erkenntnisse des Absoluten oder für absolute Erkenntnisse
hält. Aber sie wird nicht skeptisch, insofern sie in der Bewegung des immer weiter Be-
ziehungen, Tatsachen, Anschauungen findenden und alles zu |gleich relativierenden 13
Erkennens auf ein Positives, die Idee der Wahrheit als eines vollendeten Kosmos ge-
richtet ist; und sie wird auch nicht skeptisch, insofern sie die relative Geltung ihrer
Richtigkeiten als allgemeingültig in bezug auf ein denkendes Subjekt nicht in Frage
stellt, wenn sie auch die absolute Geltung für keinen ihrer Sätze in Anspruch nimmt.
Die Wahrheit ist nicht besitzbar, wohl aber ist auf Grund des immer vermehrten Be-
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Die eine Wahrheit zersplittert in eine Fülle von Wahrheiten, deren bestimmte, beson-
dere und begrenzte Geltung dem Erkennenden bewußt wird. Es entsteht eine Welt
der Wissenschaften, gegliedert nach Methoden, nach Begründungsarten und Arten
der Geltung, nach Inhalten. Es gibt mathematische, empirische, spekulative Einsich-
ten, naturwissenschaftliche, psychologische, historische Erkenntnisse, formallogi- 12
sehe zwingende Gedankengänge, experimentelle Verifikationen, dialektische Gedan-
kenbewegungen und die unendliche Reflexion - und alle diese zeigen nebeneinander
höchst verschiedene Wege wissenschaftlicher Forschung. Immer wieder hat man eine
Art von wissenschaftlichen Erkenntnissen für die einzige wissenschaftliche Erkennt-
nis erklärt, die übrigen für Verirrungen oder für Verwechslungen mit Dichtungen oder
für primitive und provisorische Vertretungen für später zu gewinnende rechte wissen-
schaftliche Erkenntnisse haltend. So hat man die philosophisch-apriorische Einsicht
gegen die empirische und umgekehrt ausgespielt, hat alle Erkenntnis nach mathema-
tischer Methode gestalten wollen, pochte auf »naturwissenschaftliche« Erkenntnis
gegen alle produktiven Einsichten, die nicht auf experimentellen und statistischen
Methoden beruhen usw. Demgegenüber wird man ohne Verabsolutierung eines ein-
zelnen Weges Wissenschaft überall da sehen, wo Urteile in Zusammenhang mit An-
spruch auf Geltung vorgetragen werden, sofern sie auf Methode beruhen und disku-
tierbar sind. Innerhalb dieses weitesten Umkreises gibt es viele besondere Arten von
Wissenschaft, denen man auch sehr verschiedenen Wert, je nach dem Standpunkt,
zuschreiben wird. Der Erkennende wird aber bei all dieser Zerlegung immer als Erken-
nender den Drang haben, alle Arten von Erkenntnissen aufeinander zu beziehen, so
wenig das auch jeweils überall gelingt; nur wird das Ganze, solange das Erkennen frei
und bewegt bleibt, nicht durch Verabsolutierung einer Methode, einer Geltungsart,
einer Wissenschaftsart erzielt werden. Aufgabe einer Enzyklopädie der Wissenschaf-
ten20 ist es (nicht im Sinne einer Sammlung der Wissenschaften, sondern einer Ana-
lyse der Prinzipien), jeweils die Intention auf das Ganze, auf den Kosmos der Wissen-
schaften zu richten.
Das dogmatische Bewußtsein, als ob die absolute Wahrheit greifbar und in Besitz
wäre, wird durch die Kräfte der Skepsis zerstört. Die Wissenschaft nimmt die Skepsis
in sich auf, indem sie relativistisch wird, das heißt, alle ihre Erkenntnisse als für Er-
kenntnisse, die auf einem Standpunkt, in gewissen Beziehungen gültig sind, zu erfas-
sen lernt, sie nicht mehr für Erkenntnisse des Absoluten oder für absolute Erkenntnisse
hält. Aber sie wird nicht skeptisch, insofern sie in der Bewegung des immer weiter Be-
ziehungen, Tatsachen, Anschauungen findenden und alles zu |gleich relativierenden 13
Erkennens auf ein Positives, die Idee der Wahrheit als eines vollendeten Kosmos ge-
richtet ist; und sie wird auch nicht skeptisch, insofern sie die relative Geltung ihrer
Richtigkeiten als allgemeingültig in bezug auf ein denkendes Subjekt nicht in Frage
stellt, wenn sie auch die absolute Geltung für keinen ihrer Sätze in Anspruch nimmt.
Die Wahrheit ist nicht besitzbar, wohl aber ist auf Grund des immer vermehrten Be-