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Die Idee der Universität [1946]
8. Wissenschaft und Philosophie
Aus unseren Erörterungen lassen sich zusammenfassend einige Sätze über das Verhält-
nis von Wissenschaft und Philosophie aussprechen. Wenn beide nicht zusammenfal-
len, die Philosophie nicht auch eine Wissenschaft neben den andern ist, vielmehr
beide wesensverschiedenen Ursprung, Methode, Wahrheitssinn haben, so sind doch
beide eng aneinander gebunden.
a) Die Wissenschaft verhält sich zur Philosophie. Wissenschaft wehrt sich gegen die
Verwirrung durch Vermischung mit Philosophie, wendet sich gegen Spekulation als
eine Störung durch leere Bemühungen, entwickelt eine für sie typische Philosophie-
feindschaft.
Aber Wissenschaft vermag auch ihre eigenen Grenzen zu erkennen. Da sie nicht
alle Wahrheit ergreift, gibt sie der Philosophie freien Raum auf deren eigenem Felde, sie
weder bejahend noch verneinend, sondern sie in ihrem Denken nicht störend, so lange
Philosophie nicht Urteile in bezug auf Gegenstände fällt, die der wissenschaftlichen
Forschung zugänglich sind. Wissenschaft sieht dem Philosophieren auf die Finger, daß
es nicht unbegründete Behauptungen und vermeintliche Beweise vorbringt, und zwar
tut sie das zum Gedeihen sowohl der reinen Wissenschaft wie der Philosophie selber.
Wissenschaft bedarf der Führung durch Philosophie, aber nicht in der Gestalt, daß Phi-
30 losophie in ihr angewendet würde, oder daß von der Philosophie die rechten | Anwei-
sungen kämen (das beides würde vielmehr die abzuwehrende schlechte Vermischung
sein). Vielmehr ist Philosophie wirksam in den Antrieben des ursprünglichen Wissen-
wollens, in den Ideen, welche hellsichtig machen und zur Wahl der Gegenstände füh-
ren, in der Betroffenheit durch die Seinsbedeutung der Erkenntnisse. Philosophie
steckt in den Wissenschaften selber als der Gehalt, der dem methodischen wissen-
schaftlichen Verfahren, das doch durch ihn geführt ist, im ausdrücklichen Bewußt-
sein entgeht. Gehaltvolle Wissenschaften sind gleichsam konkrete Philosophie.222
Wenn in den Wissenschaften in diesem Sinne ein Selbstbewußtsein des eigenen Tuns
hell wird, so ist dieses Selbstbewußtsein schon bewußtes Philosophieren. Die Beschäf-
tigung aber des Forschers mit philosophischen Bemühungen führt, obgleich keine An-
wendungen und unmittelbare Brauchbarkeiten in Frage kommen, zur Auflockerung
des Umgreifenden im Forscher, zum Erwerb und zur Verstärkung von Antrieben für
seine Forschung, zum Sinnbewußtsein seines wissenschaftlichen Tuns.
b) Die Philosophie verhält sich zur Wissenschaft. Sie erkennt die Wissenschaft als ihre
Voraussetzung an. Zugleich mit dem Bewußtsein ihres Unterschiedenseins von Wis-
senschaft bindet sich daher wahre Philosophie bedingungslos an Wissenschaft. Nie-
mals gestattet sie sich, erkennbare Wirklichkeit zu ignorieren. Was wirklich und was
zwingend erkennbar ist, will sie grenzenlos wissen und zur Wirkung kommen lassen
in der Entwicklung ihres Seinsbewußtseins. Wer philosophiert, drängt zu den Wissen-
schaften und will in wissenschaftlichen Methoden erfahren sein.
Die Idee der Universität [1946]
8. Wissenschaft und Philosophie
Aus unseren Erörterungen lassen sich zusammenfassend einige Sätze über das Verhält-
nis von Wissenschaft und Philosophie aussprechen. Wenn beide nicht zusammenfal-
len, die Philosophie nicht auch eine Wissenschaft neben den andern ist, vielmehr
beide wesensverschiedenen Ursprung, Methode, Wahrheitssinn haben, so sind doch
beide eng aneinander gebunden.
a) Die Wissenschaft verhält sich zur Philosophie. Wissenschaft wehrt sich gegen die
Verwirrung durch Vermischung mit Philosophie, wendet sich gegen Spekulation als
eine Störung durch leere Bemühungen, entwickelt eine für sie typische Philosophie-
feindschaft.
Aber Wissenschaft vermag auch ihre eigenen Grenzen zu erkennen. Da sie nicht
alle Wahrheit ergreift, gibt sie der Philosophie freien Raum auf deren eigenem Felde, sie
weder bejahend noch verneinend, sondern sie in ihrem Denken nicht störend, so lange
Philosophie nicht Urteile in bezug auf Gegenstände fällt, die der wissenschaftlichen
Forschung zugänglich sind. Wissenschaft sieht dem Philosophieren auf die Finger, daß
es nicht unbegründete Behauptungen und vermeintliche Beweise vorbringt, und zwar
tut sie das zum Gedeihen sowohl der reinen Wissenschaft wie der Philosophie selber.
Wissenschaft bedarf der Führung durch Philosophie, aber nicht in der Gestalt, daß Phi-
30 losophie in ihr angewendet würde, oder daß von der Philosophie die rechten | Anwei-
sungen kämen (das beides würde vielmehr die abzuwehrende schlechte Vermischung
sein). Vielmehr ist Philosophie wirksam in den Antrieben des ursprünglichen Wissen-
wollens, in den Ideen, welche hellsichtig machen und zur Wahl der Gegenstände füh-
ren, in der Betroffenheit durch die Seinsbedeutung der Erkenntnisse. Philosophie
steckt in den Wissenschaften selber als der Gehalt, der dem methodischen wissen-
schaftlichen Verfahren, das doch durch ihn geführt ist, im ausdrücklichen Bewußt-
sein entgeht. Gehaltvolle Wissenschaften sind gleichsam konkrete Philosophie.222
Wenn in den Wissenschaften in diesem Sinne ein Selbstbewußtsein des eigenen Tuns
hell wird, so ist dieses Selbstbewußtsein schon bewußtes Philosophieren. Die Beschäf-
tigung aber des Forschers mit philosophischen Bemühungen führt, obgleich keine An-
wendungen und unmittelbare Brauchbarkeiten in Frage kommen, zur Auflockerung
des Umgreifenden im Forscher, zum Erwerb und zur Verstärkung von Antrieben für
seine Forschung, zum Sinnbewußtsein seines wissenschaftlichen Tuns.
b) Die Philosophie verhält sich zur Wissenschaft. Sie erkennt die Wissenschaft als ihre
Voraussetzung an. Zugleich mit dem Bewußtsein ihres Unterschiedenseins von Wis-
senschaft bindet sich daher wahre Philosophie bedingungslos an Wissenschaft. Nie-
mals gestattet sie sich, erkennbare Wirklichkeit zu ignorieren. Was wirklich und was
zwingend erkennbar ist, will sie grenzenlos wissen und zur Wirkung kommen lassen
in der Entwicklung ihres Seinsbewußtseins. Wer philosophiert, drängt zu den Wissen-
schaften und will in wissenschaftlichen Methoden erfahren sein.