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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0203
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Die Idee der Universität [1946]

Augenblick zu suspendieren,227 von der eigenen Partei, dem eigenen gegenwärtigen
Willen absehen zu können zugunsten unbefangener Analyse der Tatsachen. Damit
wird aber nicht nur sachlich freie Erkenntnis erworben, sondern auch die Erfahrung
des eigenen Parteiseins verwandelt. Es werden Fanatismus und Blindheit aufgehoben.
Die Erfahrung, selber nicht alles zu sein, macht echte Unbedingtheit möglich. Das Un-
lösbare, die Erfahrung von der Ungeschlossenheit der Welt wird zum Sprungbrett des
Transzendierens. Die wissenschaftliche Haltung ist mehr als Förderung endlichen Er-
kennens. Sie ist eine Bildung zur Vernunft.228
Wissenschaftlichkeit ist Sachlichkeit, Hingabe an den Gegenstand, besonnenes
Abwägen, Aufsuchen der entgegengesetzten Möglichkeiten, Selbstkritik. Sie erlaubt
nicht, nach Bedarf des Augenblicks dieses oder jenes zu denken und das andere zu ver-
gessen. Ihr eignet das Skeptische und Fragende, die Vorsicht im endgültigen Behaup-
ten, das Prüfen der Grenzen und der Art der Geltung unserer Behauptungen.
Bildung als Formung nach einem festen Ideal ohne ständige Bewegung der Ver-
nunft durch Wissenschaften verfestigt und beschränkt. Bildung als Formung der Hal-
tung, in Vernunft jeden Weg zu versuchen, die Bewegungen des Geistes allseitig zu
vollziehen, öffnet dem Menschen den weitesten Raum.
35 | Die wissenschaftliche Bildung hat weiter ihren Charakter durch den Gehalt der
Wissenschaften, in denen der Forscher vorzugsweise lebt. Der Bildungswert der Natur-
wissenschaften und der Geisteswissenschaften hat einen sehr verschiedenen Charak-
ter. Naturwissenschaftlicher Realismus und Humanismus scheinen wie zwei Bildungs-
ideale. Beide beruhen auf wissenschaftlicher Forschung, das eine auf dem Umgang mit
den Realitäten der Natur durch Beobachtung und Experiment, der andere auf dem Um-
gang mit Büchern und Werken des Menschen durch Verstehen.
In den Geisteswissenschaften verstehen wir den Geist. Unser Geist beschäftigt sich
mit vergangenen Gestalten des Geistes. Wir bleiben im Element des Verstehbaren und
berühren nur gelegentlich, als Grenze und als das Fremde, die unverstehbaren Daseins-
bedingungen allen Geistes, etwa in geographischen Gegebenheiten, Rassen, Naturka-
tastrophen. Aber unser ganzes Dasein ist durchdrungen von diesem Unverstehbaren,
das die Naturwissenschaft zu erkennen sucht. Wir erfassen es als ein Fremdes, nicht
von innen verstehend, sondern von außen erklärend.229
Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften haben beide die Tendenz, je sich
selber den Vorrang zu geben und zur eigentlichen Wissenschaft zu machen. Der Spi-
ritualisierung tritt die Naturwissenschaft mit ihrem Wissen von der Realität, in die
auch unser gesamtes geistiges Dasein verflochten ist, entgegen. Der Materialisierung
und Biologisierung tritt die Geisteswissenschaft entgegen mit dem Wissen um den ei-
genen unableitbaren Ursprung des Geistes.
Ein Bildungsideal, in dem Humanismus und Realismus miteinander verbunden
wären zu gegenseitiger Erleuchtung und Durchdringung, besteht bis heute nicht.
 
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