Die Idee der Universität [1946]
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Vorlesungen, die didaktisch sich an die Hörer wenden und sie innerlich heranziehen,
sind ebenso möglich wie monologische Erörterungen lebendiger Forschungen, bei de-
nen der Lehrer kaum an den Hörer denkt, die aber gerade dann dem Hörer augen-
blickshafte Teilnahme an wirklicher Forschung gewähren. Eine besondere Stellung
haben Vorlesungen, die den Gesamtaspekt einer Wissenschaft geben. Sie sind unent-
behrlich durch die mit ihnen erweckten Antriebe, auf das Ganze zu blicken, wenn
gleichzeitig im Einzelnen entschieden und gründlich gearbeitet wird. Solche Vorle-
sungen sind Sache der reifsten Dozenten, die in ihnen die Summe ihrer Lebensarbeit
ziehen. Darum sollen an der Universität die Grundwissenschaften von den hervorra-
gendsten Professoren in Hauptvorlesungen als je Ganzes behandelt werden.
Grundwissenschaften sind solche, die ein Ganzes des Erkennens als das Ganze in
besonderer Gestalt erscheinen lassen. Im Unterschied von Hilfswissenschaften und
spezialisierten Techniken zeigen sie in der Besonderheit ihres Gebiets eine Transpa-
renz, durch die sie Beispiel des Erkennens, nicht aber der letzte Zweck sind. Wissen-
schaften, denen es gelungen ist, ihre Spezialität zur Vertretung des Ganzen zu machen,
haben dadurch universalen Charakter. Sie verwirklichen eine Wissenschaftsgesin-
nung, die sich auch in eigentümlichen Lehrbüchern offenbart, in denen sie ihren Sinn
zeigen. Die Weise, wie eine Wissenschaft betrieben wird, bringt eine Stimmung, die
nur solchen Grundwissenschaften eignet.
Die Vorlesungen sind in den letzten Jahrzehnten viel gescholten worden.241 Sie
seien ein einseitiger Vortrag, der die Hörer passiv mache. Es fehle jede Bewährung der
Hörer, ob sie verstanden und angeeignet haben. Das Vorgetragene stehe in Büchern
zumeist besser und sei schneller aus ihnen zu lernen. Solche Einwände haben jedoch
nur Sinn gegenüber schlechten Vorlesungen, die etwa in identischer Wiederholung
mit dem Turnus der Semester ein vom Professor gruppiertes festes Wissen bringen,
oder die aus dem bequemen Redefluß zufällig entstehen. Die Vorlesungen haben Wert,
wenn sie zu einer wesentlichen Lebensaufgabe des Dozenten werden, sorgfältig vor-
bereitet sind und zugleich dem lebendig gegenwärtigen geistigen Leben unwiederhol-
bar entspringen.
| Solche Vorlesungen gehören zu den unersetzlichen Wirklichkeiten der Überliefe-
rung. Die Erinnerung an die Vorlesungen bedeutender Forscher begleitet durch das Le-
ben. Die gedruckte, etwa wörtlich mitgeschriebene Vorlesung ist nur ein schwacher
Rest. Was in der Vorlesung zur Geltung kommen kann, das ist zwar durchaus an den In-
halt gebunden, der auch noch im Gedruckten erscheint. Aber dieser Inhalt ist in der
Vorlesung so hervorgebracht, daß mit ihm indirekt all das Umgreifende spricht, aus
dem er kommt und dem er dient. Ungewußt vermag der Vortrag durch den Ton, die Ge-
bärde, die wirkliche Gegenwart des Gedachten eine Stimmung der Sache zu vermitteln,
die in der Tat nur im gesprochenen Wort und nur in dem Zusammenhang einer Vorle-
sung - nicht so im bloßen Gespräch und in der Diskussion - zur Erscheinung kommen
kann. Die Situation der Vorlesung treibt im Lehrer selbst hervor, was ohne sie verborgen
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Vorlesungen, die didaktisch sich an die Hörer wenden und sie innerlich heranziehen,
sind ebenso möglich wie monologische Erörterungen lebendiger Forschungen, bei de-
nen der Lehrer kaum an den Hörer denkt, die aber gerade dann dem Hörer augen-
blickshafte Teilnahme an wirklicher Forschung gewähren. Eine besondere Stellung
haben Vorlesungen, die den Gesamtaspekt einer Wissenschaft geben. Sie sind unent-
behrlich durch die mit ihnen erweckten Antriebe, auf das Ganze zu blicken, wenn
gleichzeitig im Einzelnen entschieden und gründlich gearbeitet wird. Solche Vorle-
sungen sind Sache der reifsten Dozenten, die in ihnen die Summe ihrer Lebensarbeit
ziehen. Darum sollen an der Universität die Grundwissenschaften von den hervorra-
gendsten Professoren in Hauptvorlesungen als je Ganzes behandelt werden.
Grundwissenschaften sind solche, die ein Ganzes des Erkennens als das Ganze in
besonderer Gestalt erscheinen lassen. Im Unterschied von Hilfswissenschaften und
spezialisierten Techniken zeigen sie in der Besonderheit ihres Gebiets eine Transpa-
renz, durch die sie Beispiel des Erkennens, nicht aber der letzte Zweck sind. Wissen-
schaften, denen es gelungen ist, ihre Spezialität zur Vertretung des Ganzen zu machen,
haben dadurch universalen Charakter. Sie verwirklichen eine Wissenschaftsgesin-
nung, die sich auch in eigentümlichen Lehrbüchern offenbart, in denen sie ihren Sinn
zeigen. Die Weise, wie eine Wissenschaft betrieben wird, bringt eine Stimmung, die
nur solchen Grundwissenschaften eignet.
Die Vorlesungen sind in den letzten Jahrzehnten viel gescholten worden.241 Sie
seien ein einseitiger Vortrag, der die Hörer passiv mache. Es fehle jede Bewährung der
Hörer, ob sie verstanden und angeeignet haben. Das Vorgetragene stehe in Büchern
zumeist besser und sei schneller aus ihnen zu lernen. Solche Einwände haben jedoch
nur Sinn gegenüber schlechten Vorlesungen, die etwa in identischer Wiederholung
mit dem Turnus der Semester ein vom Professor gruppiertes festes Wissen bringen,
oder die aus dem bequemen Redefluß zufällig entstehen. Die Vorlesungen haben Wert,
wenn sie zu einer wesentlichen Lebensaufgabe des Dozenten werden, sorgfältig vor-
bereitet sind und zugleich dem lebendig gegenwärtigen geistigen Leben unwiederhol-
bar entspringen.
| Solche Vorlesungen gehören zu den unersetzlichen Wirklichkeiten der Überliefe-
rung. Die Erinnerung an die Vorlesungen bedeutender Forscher begleitet durch das Le-
ben. Die gedruckte, etwa wörtlich mitgeschriebene Vorlesung ist nur ein schwacher
Rest. Was in der Vorlesung zur Geltung kommen kann, das ist zwar durchaus an den In-
halt gebunden, der auch noch im Gedruckten erscheint. Aber dieser Inhalt ist in der
Vorlesung so hervorgebracht, daß mit ihm indirekt all das Umgreifende spricht, aus
dem er kommt und dem er dient. Ungewußt vermag der Vortrag durch den Ton, die Ge-
bärde, die wirkliche Gegenwart des Gedachten eine Stimmung der Sache zu vermitteln,
die in der Tat nur im gesprochenen Wort und nur in dem Zusammenhang einer Vorle-
sung - nicht so im bloßen Gespräch und in der Diskussion - zur Erscheinung kommen
kann. Die Situation der Vorlesung treibt im Lehrer selbst hervor, was ohne sie verborgen
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