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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Schwabe AG [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0248
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Die Idee der Universität [1946]

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Die Verschiedenheit der Menschen ist außerordentlich. Hier gibt es für den, der
sich die Realität nicht verschleiern will, unausweichliche Einsichten. Sie sind in der
Lebenserfahrung begründet und zum Teil durch methodische Untersuchungen gesi-
chert. Aber der Mensch ist als Mensch ein Wesen offener Möglichkeiten. Der Einzelne
ist als Ganzes niemals unter irgendwelche Begabungs- und Charaktertypen zu klassi-
fizieren. Alle Untersuchungen in dieser Richtung sind Versuche, um ein Licht auf den
Menschen zu werfen, das ihn in Aspekten zeigt, aber nicht im Ganzen enthüllt.
Wir unterscheiden:
a) Die Voraussetzungen der Begabung, wie Gedächtnis, Merkfähigkeit, Lernfähigkeit,
Ermüdbarkeit, Übbarkeit, Eigenschaften der Sinnesorgane, Unterscheidungsempfind-
lichkeit, Ablenkbarkeit, Tempo usw. Alles dieses ist experimentell untersuchbar, mehr
oder weniger meßbar, auch bei einer Gruppe von Individuen vergleichend zu prüfen,
so daß man hier für die jeweilige Leistung die der Begabung nach Tüchtigsten heraus-
finden kann.
b) Die eigentliche Intelligenz ist schwerer zu fassen. Man hat auch hier Prüfungen, z.B.
der Kombinationsfähigkeit, der Anpassungsfähigkeit an neue Situationen, der Urteils-
kraft versucht.48 Jedoch ist hier alles unsicherer, manchmal greifbar bestimmt, dann wie-
der überraschend dadurch, daß sonst versagende Menschen irgendwo bedeutende In-
telligenz zu zeigen scheinen. Einerseits beachtet man auch hier besondere intellek|tuelle
Fähigkeiten (Talente), andererseits denkt man an einen intellektuellen Zentralfaktor,
eine allgemeine Intelligenz, ohne eine endgültige Klarheit gewonnen zu haben.
c) Die Geistigkeit, das Ethos der Intelligenz, die »Interessen« (nach Abzug der blo-
ßen Lust an der Ausübung der Funktion, der bloßen Lust am Erfolg, am Übertreffen),
die Liebe zur Sache, der Aufschwung durch Ideen, die Wahrhaftigkeit, der Enthusias-
mus des Erkennens. Dieses alles ist weder experimentell zu fassen, noch empirisch end-
gültig zu beurteilen. Es ist das unter den Menschen spärlich Verbreitete, und sogar sol-
che, die über die geistige Auslese in Prüfungen entscheiden, scheinen oft selbst nur
einen geringen Funken dieser Geistigkeit in sich zu tragen.
d) Das Schöpferische. Dieses steht ganz außer der Reihe des objektiv Beurteilbaren.
Das Schöpferische ist dem Menschen gegeben, dann im Fleiß erarbeitet oder nichtach-
tend verschwendet. Es gibt verkommene Genies, die aus ihrem Dämon49 nichts ma-
chen, da ihnen Zucht und Besonnenheit fehlt. Das Genie entfaltet sich nur, wenn zu-
gleich Ethos, Wille, Fleiß, Handwerk da sind. Es gibt geniale Menschen, die schließlich
alles verlieren und ungeistig verkommen. Das Geniale, solange es in einem Menschen
flammt, schafft Urerfahrungen, ursprüngliche Ideen und Gestalten. Es ist nicht Gegen-
stand des Wollens, außer jeder Berechnung und Züchtung, außerhalb jeder willentli-
chen Auslese, außerhalb zwingend zu machender Maßstäbe (auch nicht vererbbar, im
Gegensatz zu Talent und allen Begabungseigenschaften). Das Genie ist, metaphysisch
gesprochen, gleichsam ein Versuch, ein Wurf des absoluten Geistes, es ist Quelle aller
geistigen Bewegung. Wir leben von dem, was das Genie uns geschaffen hat und von

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