Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0357
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
282

Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]

Diese Autonomie, einst gegründet in der kirchlich-gläubigen Wahrheitsverwal-
tung, und in Grenzfällen durch kirchliche Entscheidungen reguliert, nimmt seit dem
Ausgang des Mittelalters eine neue Gestalt an in der schöpferischen Wahrheitsfindung
der Forschung. Sie wird mit der Entfaltung der modernen Wissenschaften zum Rin-
gen um die Wahrheit in der Pluralität der Möglichkeiten. Von keiner Stelle in der Welt
her ist sie regulierbar. Mit dem Wandel des Wissenschaftsbegriffs treten neue Weisen
des Wissens auf, die sich oft als das Neue ausschließend gegen das Alte stellen, obgleich
sie nur neue Wege in dem umfassenden Ganzen möglichen Erkennens gangbar ma-
chen. Schließlich wird dieses Ganze selber methodisch bewußt, aber niemals mehr
kann es gewußt werden. Es wird die ins Unendliche der Einheit allen Wissens führende
Idee. Sie ist grundsätzlich für alle Möglichkeiten und damit auch für das Verstehen
und vielleicht Wiedergewinnen vergessener Wahrheit offen. Autonomie der Univer-
sität bedeutet jetzt ihre Freiheit in diesem all offenen Raum.
Man darf die mittelalterliche Autonomie, diese sich selbst bindende und in regu-
lierten Gebundenheiten lebende Freiheit des Wahrheitssuchens (das die moderne Ge-
stalt der Freiheit, dieses ins Unendliche ausgreifende Denken noch nicht kannte) nicht
verwechseln mit der heutigen Gebundenheit theologischer »Hochschulen« (im Un-
terschied von theologischen Fakultäten), die in einer freien Umwelt für sich die Auto-
nomie des Wahrheitssuchens zugunsten dogmatischer Erstarrung in einem bloßen
Unterricht aufgehoben haben. Die Autonomie wandelt ihre Gestalt. Sie ist zwar nur
dunkel aber tatsächlich als Freiheit im Mittelalter da. Als sie bewußt wurde, wurde sie
28 verworfen. Einzelne kirchliche Bereiche kapselten sich geistig ab gegen die | moderne
Welt. Daher atmet man frei beim Studium etwa Anselms, des Cusanus und vieler an-
derer, aber fühlt sich erstickt beim Studium moderner thomistischer Lehrbücher.
Die Autonomie der Wahrheit wird von dem modernen, freien, demokratischen
Staat garantiert (in der Deutschen Bundesrepublik, Grundgesetz Artikel 5, heißt es
nicht nur: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei«, sondern allge-
mein wird auch die Freiheit der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit statuiert: »eine
Zensur findet nicht statt«). Dieser Staat schützt die Autonomie der Wahrheit auch in
den staatsabhängigen Universitäten.
Was ist das, was hier garantiert wird? Köttgen379 kommentiert sachentsprechend,
daß damit nicht etwa ein inhaltlich bestimmter Begriff von Wissenschaft für verbind-
lich erklärt sei. Ein »Wandel des Wissenschaftsbegriffs« ändert nicht die Garantie. Er
fügt im Sinn moderner Wissenschaftlichkeit einleuchtend hinzu, es sei »das Recht und
die Pflicht der Wissenschaft, sich selber in Frage zu stellen«. Der Staat, indem er garan-
tiere, vertraue »auf die innere Selbstüberwachung des Partners«. Die Wissenschaft
habe auch die »verfassungsrechtliche« Pflicht zur Selbstkritik (Köttgen will unbeant-
wortet lassen, ob sie dieser Pflicht hinreichend gerecht geworden ist).
Der Staat garantiert die Freiheit der Wissenschaft, ohne den Begriff Wissenschaft
interpretieren zu können (ebenso wie er die Freiheit der Kirche garantiert). Köttgen
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften