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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0394
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Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]

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Daß aber die Universität über die Wissenschaften hinaus und mit deren Mitteln
geistiges Leben wirkt, ist von jeher ausdrücklich anerkannt dadurch, daß ihr die Auf-
gaben von Bildung und Erziehung gestellt wurden.
a) Bildung
1. Historischer Rückblick. Gebildet heißt der Mensch, der nach einem bestimmten ge-
schichtlichen Ideal geprägt ist. Ihm ist ein Ganzes von Vorstellungsweisen, Bewegun-
gen, Wertungen, Sprechweisen und Fähigkeiten zur zweiten Natur13 geworden. Gebil-
det ist der Grieche in seiner Kalokagathie,14 der Römer in seiner Dignitas, die das
decorum und honestum wahrt,226 der Engländer als Gentleman. Die Bildungsideale
hatten ihre Weise nach dem Stande, aus dem sie kamen (Ritter, Priester, Mönch, Bür-
ger), nach der geistigen Sphäre, die bestimmend wurde (Weltmann, Künstler und
Dichter, Forscher), nach dem herrschenden | Sachgebiet (das musisch-gymnasische
Geprägtsein, das scholastische Wissen und Können, die sprachlich-literarische Bil-
dung, das technisch-naturwissenschaftliche Können), schließlich nach der Institu-
tion, in der die Bildung erworben wurde (Gymnasium, öffentliches Leben der Agora,18
Fürstenhof, Salon, Universität). Gemeinsam ist den Bildungsidealen der Sinn für Form
und Selbstbeherrschung, auch der Sinn dafür, daß durch Übung die Bildung zur zwei-
ten Natur werden müsse, als ob alles angeboren und nicht erworben sei.
Zuweilen hat ein ganzes Volk das Bildungsideal eines Standes als das seine empfun-
den und zum allgemeinen gemacht. So wurde der geprägte und einheitliche Habitus
des englischen Gentleman und des Franzosen möglich, während in Deutschland kein
Stand ein Bildungsideal mit suggestiver Kraft entwickelt hat, darum der Deutsche als
solcher ungebildet, Barbar, seine Bildung eine persönliche des Einzelnen ist.16
Nicht Bildung, sondern eine Folge der Bildung ist die Berechtigung, die soziolo-
gisch privilegiert. Im hellenistischen Ägypten machte die Ausbildung als Ephebe11 im
Gymnasium zum Griechen, der allein berechtigt war zu kommunalen Ämtern, man
führte Listen über die gymnasisch Gebildeten. Der Chinese gewann durch Examina
das Vorrecht, der Literatenschicht anzugehören und Mandarin12 zu werden. Bei uns
heißt gebildet, wer die Zeugnisse der höheren Schulen, früher nur des humanistischen
Gymnasiums, besitzt. Ohne dies Abiturientenzeugnis ist die akademische Ausbildung
nicht zugänglich, die ihrerseits die Berechtigung zu bestimmten Berufen verleiht.
2. Wissenschaftlichkeit als Bildung. Soweit an der Universität eine eigentümliche Bil-
dung entsteht, ist sie wissenschaftliche Bildung. Diese ist bestimmt durch die Haltung
der Wissenschaftlichkeit überhaupt. Sie ist die Fähigkeit, zugunsten objektiver Erkennt-
nis die eigenen Wertungen für je einen Augenblick zu suspendieren,227 von der eige-
nen Partei, dem eigenen gegenwärtigen Willen absehen zu können zugunsten unbe-
fangener Analyse der Tatsachen. Wissenschaftlichkeit ist Sachlichkeit, Hingabe an den
Gegenstand, besonnenes Abwägen, Aufsuchen der entgegengesetzten Möglichkeiten,
Selbstkritik. Sie erlaubt nicht, nach Bedarf des Augenblicks dieses oder jenes zu den-

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