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Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]
In allen drei Typen der Erziehung herrscht Ehrfurcht. Diese findet ihren Gipfel bei
der scholastischen Erziehung in einer Tradition, die zugleich in einer hierarchischen
Ordnung leibhaft gegenwärtig ist; bei der Meistererziehung in der Persönlichkeit des
Meisters; bei der sokratischen Erziehung in der Idee des unendlichen Geistes, in dem
es auf eigene Verantwortung vor der Transzendenz zu existieren gilt.
In dem Maße, als die Substanz fraglich wird, formalisiert sich die Erziehung. Die
Ehrfurcht wird künstlich hochgehalten durch bewußtes Geheimnis als Mittel der Obe-
ren, durch Forderung persönlicher Autorität und blinden Gehorsams. Statt einer dis-
ziplinierten Arbeit in der umgreifenden Substanz bleibt leere »Pflichterfüllung«. Statt
des Agons um die besten Leistungen entsteht der eitle Ehrgeiz, der in der Anerkennung
und Zensierung das Endziel sieht. An Stelle des Hineinwachsens in ein substantielles
Ganzes tritt bloßes Lernen von Dingen, die nützlich sein können. Statt Bildung unter
einem Ideal bleibt der Erwerb von schnell wieder zu vergessenden Kenntnissen für ein
Examen, durch welches Bildung bescheinigt wird.
86 | Alle bewußte Erziehung setzt Substanz voraus. Ohne Glauben gibt es keine Erzie-
hung, sondern bloße Unterrichtstechnik. Das Suchen nach dem Erziehungsziel ist
hoffnungslos, wenn es etwas anderes ist als das Sichbewußtmachen der gegenwärti-
gen Substanz, des eigenen Willens. Daher die geringe Bedeutung der Schlagworte von
Erziehungszielen, die man hören kann: Ausbildung der besonderen Eignung, Ertüch-
tigung, Weltorientierung, Charakterbildung, Nationalbewußtsein, Kraft und Selbstän-
digkeit, Ausdrucksfähigkeit, Bildung der Persönlichkeit, Schaffung eines alle verbin-
denden gemeinsamen Kulturbewußtseins usw.
Die Erziehung an der Universität ist ihrem Wesen nach sokratische Erziehung. Studen-
ten sind Erwachsene, nicht Kinder. Sie haben die Reife der vollen Selbstverantwortung.
Die Lehrer geben keine Anweisungen und keine persönliche Führung. Das einzig hohe
Gut, das mit der Selbsterziehung des Einzelnen in der Luft der Universität erworben
werden kann, die innere Freiheit, ist verloren, wenn eine Erziehung stattfindet, wie sie
großartig etwa in geistlichen Orden, auch in Kadettenanstalten,238 in der Janitscharen-
zucht239 entfaltet worden ist. Solcher allgemeinen Zucht oder einem Meister kann man
sich nicht unterwerfen, ohne jene Freiheit zu verlieren. Nur in der Freiheit kommen
wir zu den Erfahrungen ursprünglichen Wissenwollens und damit menschlicher Selb-
ständigkeit, die sich von Gott geschenkt und zugleich gebunden weiß.
Die Freiheit des Lebens in dieser Idee hat aber »gefährliche« Folgen. Da dieses Le-
ben nur aus eigener Verantwortung gedeiht, wird schon der Student auf sich selbst zu-
rückgewiesen. Der Freiheit der Lehre entspringt die Freiheit des Lernens. Keine Autori-
tät, keine vorschriftsmäßige Lebensführung und schulmäßige Studienleitung darf den
Studenten beherrschen. Er hat die Freiheit zu verkommen.79 Es ist gesagt worden: Man
muß Jünglinge wagen, wenn Männer entstehen sollen.80 Wohl spielt auch der schola-
stische Unterricht eine berechtigte Rolle, das Lernen im engeren Sinn, das Üben der
Methode - aber der Student hat die freie Wahl, wieweit er ihn mitmachen will. Die so-
Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]
In allen drei Typen der Erziehung herrscht Ehrfurcht. Diese findet ihren Gipfel bei
der scholastischen Erziehung in einer Tradition, die zugleich in einer hierarchischen
Ordnung leibhaft gegenwärtig ist; bei der Meistererziehung in der Persönlichkeit des
Meisters; bei der sokratischen Erziehung in der Idee des unendlichen Geistes, in dem
es auf eigene Verantwortung vor der Transzendenz zu existieren gilt.
In dem Maße, als die Substanz fraglich wird, formalisiert sich die Erziehung. Die
Ehrfurcht wird künstlich hochgehalten durch bewußtes Geheimnis als Mittel der Obe-
ren, durch Forderung persönlicher Autorität und blinden Gehorsams. Statt einer dis-
ziplinierten Arbeit in der umgreifenden Substanz bleibt leere »Pflichterfüllung«. Statt
des Agons um die besten Leistungen entsteht der eitle Ehrgeiz, der in der Anerkennung
und Zensierung das Endziel sieht. An Stelle des Hineinwachsens in ein substantielles
Ganzes tritt bloßes Lernen von Dingen, die nützlich sein können. Statt Bildung unter
einem Ideal bleibt der Erwerb von schnell wieder zu vergessenden Kenntnissen für ein
Examen, durch welches Bildung bescheinigt wird.
86 | Alle bewußte Erziehung setzt Substanz voraus. Ohne Glauben gibt es keine Erzie-
hung, sondern bloße Unterrichtstechnik. Das Suchen nach dem Erziehungsziel ist
hoffnungslos, wenn es etwas anderes ist als das Sichbewußtmachen der gegenwärti-
gen Substanz, des eigenen Willens. Daher die geringe Bedeutung der Schlagworte von
Erziehungszielen, die man hören kann: Ausbildung der besonderen Eignung, Ertüch-
tigung, Weltorientierung, Charakterbildung, Nationalbewußtsein, Kraft und Selbstän-
digkeit, Ausdrucksfähigkeit, Bildung der Persönlichkeit, Schaffung eines alle verbin-
denden gemeinsamen Kulturbewußtseins usw.
Die Erziehung an der Universität ist ihrem Wesen nach sokratische Erziehung. Studen-
ten sind Erwachsene, nicht Kinder. Sie haben die Reife der vollen Selbstverantwortung.
Die Lehrer geben keine Anweisungen und keine persönliche Führung. Das einzig hohe
Gut, das mit der Selbsterziehung des Einzelnen in der Luft der Universität erworben
werden kann, die innere Freiheit, ist verloren, wenn eine Erziehung stattfindet, wie sie
großartig etwa in geistlichen Orden, auch in Kadettenanstalten,238 in der Janitscharen-
zucht239 entfaltet worden ist. Solcher allgemeinen Zucht oder einem Meister kann man
sich nicht unterwerfen, ohne jene Freiheit zu verlieren. Nur in der Freiheit kommen
wir zu den Erfahrungen ursprünglichen Wissenwollens und damit menschlicher Selb-
ständigkeit, die sich von Gott geschenkt und zugleich gebunden weiß.
Die Freiheit des Lebens in dieser Idee hat aber »gefährliche« Folgen. Da dieses Le-
ben nur aus eigener Verantwortung gedeiht, wird schon der Student auf sich selbst zu-
rückgewiesen. Der Freiheit der Lehre entspringt die Freiheit des Lernens. Keine Autori-
tät, keine vorschriftsmäßige Lebensführung und schulmäßige Studienleitung darf den
Studenten beherrschen. Er hat die Freiheit zu verkommen.79 Es ist gesagt worden: Man
muß Jünglinge wagen, wenn Männer entstehen sollen.80 Wohl spielt auch der schola-
stische Unterricht eine berechtigte Rolle, das Lernen im engeren Sinn, das Üben der
Methode - aber der Student hat die freie Wahl, wieweit er ihn mitmachen will. Die so-