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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 21): Schriften zur Universitätsidee — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51221#0414
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Die Idee der Universität. Für die gegenwärtige Situation entworfen [1961]

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wert wäre, und keine Kunst, die nicht ein Wissen erfordert. Aber die Universität kann
allem nur gerecht werden, wenn es ihr gelingt, es mit dem Geiste des Ganzen zu durch-
dringen. Sie muß die Wissenschaftlichkeit dadurch bewahren, daß sie das herange-
brachte Material faktischen Wissens und Könnens in konkreter Gestalt aneignet und
im Ganzen des Wißbaren eingliedert.
Es gibt zwei Weisen der Erweiterung durch Vermehrung der Fächer. Die erste Weise ist
die der natürlichen Entwicklung der Wissenschaft, die sich reicher werdend gliedert.
In den Spaltungen des Ganzen bleibt das Neue je ein Ganzes, wie Leben aus Leben her-
vorgeht. So wurden in der Medizin etwa die Psychiatrie und die Augenheilkunde selb-
ständig, beide als Wissenschaften und durch ihre Vertreter von universalem Charakter.
Umgekehrt oder zweifelhaft liegt es in anderen Fällen. Die gerichtliche Medizin etwa
ist kein geistig selbständiges Fach, sondern eine Sammlung technischer Fertigkeiten
und des für diesen Zweck nützlichen Wissens. Zweifelhaft ist der Rang der Zahnheil-
kunde und anderer Spezialitäten, weil die Organe, die der Gegenstand dieser Fächer
sind, nicht die Möglichkeit | universellen Ausgreifens mit sich bringen - das Fach steht
nicht geistig gleichwertig neben innerer Medizin, Augenheilkunde, Psychiatrie. Zwei-
felhaft ist auch der Rang der Hygiene. Obgleich einige hervorragende Vertreter dieses
Faches Forscher ersten Ranges waren, ist das Fach als solches doch praktisch-technisch
begrenzt. Daß die Bakteriologie produktiv von Hygienikern gefördert wurde, gibt dem
Fach als solchem noch nicht den Rang der ideebestimmten Grundwissenschaften.
Doch diese Fragen im einzelnen sollen hier nicht entschieden werden. Uns kommt es
auf das Prinzip an: Spaltungen der Wissenschaften zum Aufbau neuer Fächer sind in
dem Maße zu bejahen, als die abgespaltene Wissenschaft von Ideen beseelt ein Ganzes
mit universalem Horizont entwickelt und dadurch eine Grundwissenschaft bleibt.
Die zweite Weise der Erweiterung ist das Herankommen neuer Stoffe von außen.
Sie begehren Einlaß, weil sie zum Kosmos der Wissenschaften beitragen können. Daß
dann z.B. Indologie und Sinologie Grundwissenschaften sind, vielleicht aber nicht
Afrikanistik und Vorgeschichte, das liegt an dem Gehalt dieser Kulturen.
Bei der heutigen Ausdehnung der Universität ist aber grundsätzlich das Entschei-
dende: Die drei früheren oberen Fakultäten - Theologie,Jurisprudenz, Medizin - tref-
fen wohl durch die Jahrtausende bleibende Lebensbereiche, aber sie reichen nicht aus,
die Bereiche des modernen Daseins zu umfassen. Das ist sichtbar an den zahlreichen
Hochschultypen, die außerhalb der Universität gegründet sind: Technische Hoch-
schule, Landwirtschaftliche Hochschule, Tierärztliche Hochschule, Lehrerbildungs-
anstalten, Handelshochschule, Bergakademie u.a. Zeigt sich nicht darin ein Versagen
der Universität? Hat sich hier eine geistwidrige Verselbständigung durchgesetzt? Es
gibt zu denken, daß in der Folge doch das, was der Universität gehört, auch auf diesen
Hochschulen ihrerseits gepflegt wird, und daß sie die natürliche Tendenz haben, sich
zur Universität zu erweitern, so daß an der technischen Hochschule auch die geistes-
wissenschaftlichen Fächer bis zur Philosophie hin Lehrstühle fanden.

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